"Dieses Entsetzen wird bleiben"

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Günter Grass' Autobiografie war noch gar nicht gelesen, da sorgte sein Bekenntnis für Aufregung, auch in Polen. Joanna Jablkowska über die Reaktionen - und über das Buch.

Die Autobiografie von Günter Grass hat bereits vor ihrem Erscheinen für eine Debatte gesorgt, die nach dem fröhlichen WM-Frühsommer, der der deutschen Identität gnädig gewesen ist, eine rasche Ernüchterung brachte. Am 12. August druckte die FAZ das Interview mit Grass und schon warfen sich alle auf das Thema, viele ohne das Buch gelesen zu haben. Manche haben zu Grass das Vertrauen ein für allemal verloren, andere hielten sein Bekenntnis, in der SS gedient zu haben, für eine "Reklameaktion" (K. Theweleit). Die meisten fanden es an sich nicht schockierend, wunderten sich aber, warum es so spät abgelegt wurde. Andere wie Christa Wolf oder Robert Menasse nahmen den Autor in Schutz und waren der Ansicht, dass seine Glaubwürdigkeit nicht gelitten habe. Zu Recht wurde ein Teil der Schuld an Grass' langem Schweigen der schwierigen, stets moralisierenden Atmosphäre in Deutschland gegeben; da mag die Stimme Martin Walsers auch in eigener Sache gesprochen haben. Was auffallen musste: die Kontroverse berief sich nicht so sehr auf die Autobiografie, sondern allenfalls auf einige Seiten aus dem Kapitel "Wie ich das Fürchten lernte", dessen Front-Ausschnitte sofort vorabgedruckt wurden.

Nicht aus heiterem Himmel

Viele Diskutierende taten, als ob Grass' Aussagen aus heiterem Himmel gefallen wären. Robert Schindel war einer der wenigen, die daran erinnerten, Grass habe von seinem SS-Dienst in privaten Gesprächen erzählt. Und wer keine Gelegenheit hatte, mit dem Autor persönlich zu sprechen, der hätte seine Bücher lesen können. In seinen Artikeln und Essays schrieb er, dass er in der Nazizeit ein überzeugter Hitler-Anhänger war und für den Endsieg kämpfen wollte, und dass er nach dem Krieg die Gräuelgeschichten von deutschen Verbrechen zunächst nicht glaubte. Angesichts der "erdrückende[n] Vielzahl von Fotos, die hier gehäufte Schuhe, dort gehäufte Haare, immer wieder zuhauf liegende Leichen abbildeten" dachte der junge Günter Grass: "Niemals hätten, nie haben Deutsche so etwas getan." Nachzulesen in der Frankfurter Poetik-Vorlesung "Schreiben nach Auschwitz". Grass hat kein Hehl daraus gemacht, dass er nur durch Zufall des gnädigen Schicksals keine große persönliche Schuld auf sich geladen hat. Zu den eindrucksvollsten Bekenntnissen gehörte 1979 der Beitrag "Kein Schlusswort": Grass stellte sich vor, wie sein Leben in der NS-Zeit ausgesehen hätte, wenn er zehn Jahre älter gewesen wäre:

"[...] [D]eutsch-idealistisch erzogen, hätte ich mich für großräumige Ziele begeistern [...] lassen. [...] Wahrscheinlich wäre mir ab Stalingrad - jetzt sechsundzwanzig Jahre alt - ein trostloses Lichtlein aufgegangen. Verwickelt womöglich in Partisanenerschießungen, [...] als Augenzeuge unübersehbarer Judendeportationen hätte ich meiner spätexpressionistischen Reimkunst [...] neue Töne, ortlose Trauer, verzweifelte Wortwahl, Dunkles, Vieldeutiges beigemengt. Und in dieser Stillage, die vierundvierzig noch einen Verleger gefunden hätte, hätte ich [...] zwanglos die Kapitulation, die angebliche Stunde Null überbrücken und mich [...] der pazifistischen bis antifaschistischen Inhalte annehmen können. [...] Das große, bis heute anhaltende Entsetzen über das Ausmaß der geduldeten, direkt oder indirekt geförderten, in jedem Fall mitzuverantwortenden Verbrechen kam erst später [...]. Und dieses Entsetzen wird bleiben."

Das anhaltende Entsetzen ist in der Autobiografie - zumindest in den ersten Kapiteln, die über die Jahre 1939-

1945 berichten - trotz der sinnlichen, detailreichen, üppigen, den Grass-Lesern gut vertrauten Sprache, ständig präsent.

Nie gefragt

Man hat den Eindruck, dass sich die Sprache von dem quälenden Gewissen befreien, dass sie über die Kindheit, über Danzig, Langfuhr, die Schulkameraden, über die enge Zweizimmerwohnung, die erste Liebe, die ersten Bücher und Filme, die Zeichenübungen berichten will und sie wird eingeholt von der Erinnerung an das moralische Versagen des Jungen von damals. Mehrmals wiederholt Grass, ihm dröhne sein damaliges Schweigen in den Ohren. Er habe nie gefragt, warum der Onkel Franz plötzlich abwesend war und ein Schulfreund verschwunden ist, wohin die Danziger Juden deportiert wurden und was im nahen Stutthof passierte, wo man den Kameraden vom Reichtsarbeitsdienst vermutete, der es wagte, den Kriegsdienst zu verweigern: "Dann war er weg, abkommandiert, wie es hieß. Wir haben nicht gefragt, wohin. Ich habe nicht gefragt." Das "inzwischen erworbene Wissen" scheint die Erinnerung zu "belehren". Die Kindheitsbilder werden "nachträglich bewertet" und die Genauigkeit des Gedächtnisses will den Buben aus Langfuhr nicht aus der Verantwortung entlassen.

Das Nicht-Wissen-Wollen von damals drückt, die Sprache scheint sich zu verselbständigen und die Unschuld der Kindheit und Jugend nicht als mildernde Unstände zu akzeptieren. Dies mag für die Kritik manieristisch oder mediengerecht aussehen. Es ist auch möglich, wie manche behaupten, dass ein viel früheres Bekenntnis für Grass ohne größere Konsequenzen gewesen wäre. Doch man kann sich auch vorstellen, dass die SS-Mitgliedschaft nachträglich zu einem wachsenden Trauma geworden ist, das öffentlich zu gestehen immer schwerer fiel, bis es unmöglich wurde. Jeder kennt aus der eigenen Kindheit die Angst, dass eine Tat ans Licht kommen könnte, die man vor den Eltern verschwiegen hat. Also man hat lieber die Scherben der zerbrochenen Vase unters Bett gekehrt, die schlechte Note ausradiert ... Es sind kindliche und kindische Reaktionen, sie sind aber psychologisch erklärbar. Vielmehr ist Grass' heftiges moralisches Engagement, sein beinahe anachronistischer Antifaschismus auch noch sechzig Jahre danach, sein Festhalten an der Schuldthese vor dem Hintergrund dieser Scham nur verständlicher. Wer "Beim Häuten der Zwiebel" liest, findet diese Vermutung bestätigt. In dem berüchtigten SS-Kapitel lesen wir:

"Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern." Alle, die die Gnade der späten Geburt genießen, sollen Grass dankbar sein, dass er der Scham nicht müde geworden ist und nicht Abenteuer-oder Liebesromane zu schreiben begann. Die hätten sich bestimmt besser verkauft als seine rabiaten Aufsätze, die ihm den Ruf des Nestbeschmutzers gebracht haben.

Nach dem Krieg

In den Nachkriegskapiteln von "Beim Häuten der Zwiebel" liest man, wie Grass Hamsterfahrten machte, einer Bäuerin aus der Hand las, erste erotische Erfahrungen hatte, wie er schließlich Mutter, Vater und Schwester im Rheinland wieder fand, wie er aufbrach, um Künstler zu werden und Steinmetzgeselle wurde, wie er die deutschen Ruinen erlebte und dann das Wirtschaftswunder, und schließlich, wie er zu schreiben, zu reisen begann ... Die Autobiografie endet im Jahr 1960, nach dem Erfolg der "Blechtrommel".

Die polnischen Reaktionen waren zuerst ähnlich unbedacht wie manche deutschen. Der PiS-Politiker Jacek Kurski wollte von Grass die Ehrenbürgerschaft von Gdansk zurückverlangen. Lech Waesa erwartete zunächst, Grass selbst solle auf die Würde verzichten, bald darauf meinte er, sollte Grass sich bei den Danzigern entschuldigen, so werde ihm verziehen. Anders die polnischen Intellektuellen: Adam Michnik schrieb in der führenden Tageszeitung Gazeta Wyborcza, dass Polen keinen besseren Freund in Deutschland habe als Grass. Er betonte die Tragödie der Generation, die in der Zeit des Nationalsozialismus groß geworden ist, und erinnerte, sich direkt an Lech Walesa wendend, an einen anderen Deutschen, der für kurze Zeit als sehr junger Mensch von der Deutschland-Ideologie betört war: Joseph Ratzinger. Vierzehn polnische Autoren, darunter die Nobelspreisträgerin Wislawa Szymborska sowie zwei bekannte Danziger Schriftsteller, die man oft als Grass' Nachfolger sieht, Stefan Chwin und Pawel Huelle, veröffentlichten in der GW einen offenen Brief, der die Politiker-Hetze gegen Grass verurteilte. Grass habe große Verdienste für die Entwicklung der deutsch-polnischen Verständigung und die Instrumentalisierung seines Bekenntnisses zu politischen Zwecken sei ein unwürdiges Spiel. Mit seinem späteren Leben habe er die Schuld der Jugend getilgt, meinten etwa Grass' Übersetzer Sawomir Blaut, die Verlagsleiterin Joanna Konopacka, der Politologe Piotr Buras in einem langen, sehr informativen Artikel in der GW, andere wie Wladyslaw Bartoszewski bedauerten, dass er das Bekenntnis so spät ablegte.

Sehr empfehlenswert sind zwei Artikel des bekannten Deutschland-Publizisten, Adam Krzeminski. In der GW erinnerte er an Grass' politisches Engagement und seine Verdienste für Polen. In der Wochenzeitschrift Polityka kommentierte er die deutschen Reaktionen im Kontext der Abrechnungsdebatten in der Bundesrepublik und in der DDR.

Polnisch-deutsche Brücke

Wer anspruchsvolle polnische Zeitungen liest, der musste den Eindruck gewinnen, dass der Nobelpreisträger etwas erreicht hat, was Politiker seit Jahrzehnten vergeblich versuchen: eine intellektuelle und menschliche Brücke zwischen Polen und Deutschen zu bauen. Wer aber nur auf populistische Stimmengewinnler hört, der ist nun davon überzeugt, dass man niemandem trauen darf, und am wenigsten den Deutschen. Die Grass-Kontroverse folgte der polnischen Überreaktion auf die Vertriebenen-Ausstellung von Erika Steinbach in Berlin. Die Medien in Polen wiesen zwar darauf hin, dass Grass' Bekenntnis die eventuellen "revisionistischen" Intentionen, die man mit der Ausstellung verbindet, widerlege. Der Autor hat auch stets Steinbachs Idee kritisiert. Doch wer will, kann die deutschen Gewissenskämpfe auch in die falsche Kehle bekommen ...

Man kann nur hoffen, dass Grass' Autobiografie bald ins Polnische übersetzt wird.

Die Autorin ist Professorin für Deutsche, Österreichische und Schweizer Literatur an der Universität Lodz, Polen.

Beim Häuten der Zwiebel

Von Günter Grass. Steidl Verlag, Göttingen 2006. 479 Seiten, geb., e 24,70

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