Martin Walser - © Foto: APA/dpa/Patrick Seeger

"Tod eines Kritikers" von Martin Walser: Dokument des Hasses?

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Es war die Literaturaffäre des letzten Jahres: die Diskussionen um Martin Walsers "Tod eines Kritikers".Ein Sammelband legt nun fundierte literaturwissenschaftliche Analysen vor.

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Es war die Literaturaffäre des letzten Jahres: die Diskussionen um Martin Walsers "Tod eines Kritikers".Ein Sammelband legt nun fundierte literaturwissenschaftliche Analysen vor.

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Wenn Literatur und Wirklichkeit zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das nicht immer die Literatur, ließe sich frei nach Lichtenberg die Affäre um Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" beschreiben. Als hohl hat sich nämlich die Argumentation des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, herausgestellt, der in einem offenen Brief vom 29. Mai 2002 einen Vorabdruck von Walsers Roman mit der Begründung ablehnte, das Buch sei ein "Dokument des Hasses", das "den Mord an einem Juden" enthalte und "das Repertoire antisemitischer Klischees" nutze. Starker Tobak fürwahr!

Das Einzigartige an diesem Schreiben war nicht die Ablehnung, nicht einmal, dass sie öffentlich geschah, das Besondere bestand darin, dass hier ein literarisches Werk inkriminiert wurde, bevor irgendjemand auch nur die Möglichkeit hatte, die Vorwürfe zu überprüfen. Für den ehemaligen Literaturredakteur der FAZ, Thomas Steinfeld, ein Fall, der "in der deutschen Presse ohne Beispiel ist". Damit war eingetreten, was Horst-Jürgen Gerigk den "Ernstfall in der Literatur" nennt. Der entstehe bei "der Interpretation eines einzelnen Textes: hier und jetzt". Und danach haben die Herausgeber Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel ihre Aufsatzsammlung zu diesem Fall "Der Ernstfall" benannt.

Enthalten sind darin 16 Beiträge prominenter Literaturwissenschaftler, die Walsers Roman auf sämtliche Vorwürfe hin abklopfen. Und zwar nicht im Schnellverfahren, in dem die Feuilletons auf Schirrmachers Brief reagierten, nachdem der Verlag den Roman elektronisch verschickt hatte, sondern nach genauer Analyse. Und siehe da, es ist nicht das Buch, das hohl klingt, es ist vielmehr so, dass die Debatte um den Romantext, der die Hohlheit der Medienwelt thematisiert, die "Literatur in die Wirklichkeit verlängert" hat, wie Borchmeyer feststellt. Denn der "Tod eines Kritikers" hat keinen Mord zum Inhalt, sondern nur das von den Medien kolportierte Gerücht eines Mordes. Auf diese Weise zeigt der Romancier dem Leser, dass sich "unter der Oberfläche der Dinge nichts" verbirgt, denn "wo es nichts aufzudecken gibt, muss der Detektiv scheitern", so Michaela Kopp-Marx. Ihre Analyse der Struktur des Buches als eines postmodernen Antikriminalromans macht deutlich, dass Walser alle Figuren so gestaltet hat, dass sie "reine Worthülsen, Zitate, Typisierungen oder Selbstinszenierungen bar jeglicher Identität und Authentizität" sind. So bleibt nichts übrig als der postmoderne Wert aller Werte: der Unterhaltungswert.

Um diesen geht es nämlich dem Antihelden des Romans, dem mächtigen Literaturkritiker André Ehrl-König, in dem sich Marcel Reich-Ranicki wiederzuerkennen meinte. Doch im Gegensatz zu seinem literarischen Vorbild, das wie Phoenix aus der Asche steigt, reagierte der mächtige Rezensent der FAZ mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Nun haben gerade wir in Mitteleuropa allen Grund dazu, wachsam gegenüber antisemitischen Äußerungen zu sein. Doch ist auch vor einem unernsten Gebrauch des Vorwurfs, ein Antisemit zu sein, zu warnen. Denn dadurch ist dieser Vorwurf "leider auf dem besten Weg, in die Spaßkultur einzugehen", so Helmuth Kiesel. Genau das wird in Walsers Roman beschrieben: die Zerstörung des Individuums durch eine auf Gags getrimmte Mediengesellschaft, die alle und alles verfälscht, "außer Ehrl-König. Den hat das Fernsehen förmlich zu sich selbst gebracht", heißt es im Roman.

Wer sich also für diese "Affäre Schirrmacher" interessiert, der lese Walsers Roman. Da steht schon alles - auch über die mediale Begleitmusik bei der Veröffentlichung - drin. Wer dazu noch profunde literaturwissenschaftliche Analysen haben will, dem sei der vorliegende Sammelband mit dem Hinweis empfohlen, dass er nur Stimmen enthält, die Walser verteidigen.

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