Dostojewski: Aufgeregtes Blättern im Verbrecheralbum
Die „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“ erschienen zwischen 1860 und 1862 und waren das fulminante Comeback des Schriftstellers nach einem erzwungenen Schweigen. Sie zeigen bereits literarische Meisterschaft.
Die „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“ erschienen zwischen 1860 und 1862 und waren das fulminante Comeback des Schriftstellers nach einem erzwungenen Schweigen. Sie zeigen bereits literarische Meisterschaft.
In den frühen Morgenstunden des 23. April 1849 wird Fjodor Michailowitsch Dostojewski in seiner Petersburger Wohnung verhaftet. Dem 27-jährigen Schriftsteller wird vorgeworfen, an umstürzlerischen Machenschaften rund um den Revolutionär Michail Petraschewski teilgenommen zu haben. Im Dezember des gleichen Jahres wird er zum Tode verurteilt. Er wird zum Richtplatz geführt und im letzten Moment begnadigt. Auf die Scheinhinrichtung folgen vier Jahre Zuchthaus in Sibirien. Dem schließt sich ein Dienst als gemeiner Soldat an, 1855 wird er zum Fähnrich befördert. 1859 erfolgt seine Entlassung (auf dem Gnadenweg, wegen heftiger epileptischer Anfälle).
In den vier Jahren im Zuchthaus von Omsk durfte Dostojewski nicht lesen (die Bibel ausgenommen) und schreiben. Trotz dieses Verbotes hat sich aus seiner Häftlings- und Soldatenzeit ein „Sibirisches Heft“ erhalten, in dem er in 486 durchnummerierten Einträgen seine Beobachtungen festgehalten hat.
Die Aufzeichnungen sind zwischen 1860 und 1862 in der Zeitschrift Der russische Bote erschienen (in veränderter Buchform 1865) und waren eine Sensation. Zwar hat wohl jeder in Russland gewusst, dass Zwangsarbeit und Verbannung nach Sibirien (die sogenannte Katorga) eine extrem harte Strafe ist, über Art und Charakter dieser Zustände war die breite Öffentlichkeit aber nur mangelhaft unterrichtet.
Dostojewski war vor seiner Verurteilung ein in literarischen Kreisen bekannter, aber auch umstrittener Autor. Sein Erstling „Arme Leute“ wurde von der Kritik begeistert aufgenommen, die nächsten Werke konnten an den ersten Erfolg nicht anschließen. Die „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“ waren das fulminante Comeback nach dem erzwungenen Schweigen. Unmittelbar danach erschienen die großen Romane, die ihm den Platz in der Weltliteratur sichern sollten: „Schuld und Sühne“/„Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“/„Böse Geister“, „Der Jüngling“/„Ein grüner Junge“ und „Die Brüder Karamasow“. Die „Aufzeichnungen“ stehen am Beginn dieser neuen Schaffensperiode und enthalten in nuce schon alles Kommende.
Dostojewski war nicht der erste und er wird auch nicht der letzte sein, bei dem die Zensur Hebammendienste leistete. Selbst in den liberalen sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hätte ein Buch über einen politischen Häftling keine Chance auf Veröffentlichung gehabt. Auch die Scheinhinrichtung war kein Thema. Dostojewskis Ehrgeiz war auch nicht, die traumatische Zuchthauserfahrung aufzuarbeiten oder eine Reportage über die Zustände im Strafvollzug zu schreiben. Er war und wollte zuallererst Schriftsteller sein und zwar ein populärer und, ja, auch ein finanziell erfolgreicher. Beglaubigt durch seine Biographie ist nun das Verbrechen und der Typus des Verbrechers in den Fokus seiner Werke gerückt.
Auch die problematischen Seiten seines Charakters waren nun, nach den Erfahrungen der Haft, unverrückbar festgeschrieben: Die Konversion vom Regimekritiker zum Apologeten der Autokratie, die Ablehnung alles Nichtrussischen und der unerschütterliche Glaube, dass allein in der russischen Orthodoxie das Heil der Welt liege, werden ihn nun bis ans Lebensende begleiten.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!