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Drama am Scheidewege

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Die Ereignisse der letzten Jahre haben die Menschen abgestumpft. Es ist schwer, die Frauen, die in den Kellern saßen, und die Männer, die müde wurden sich vor der täglichen Todesgefahr zu fürchten, aus einer geistigen Erschlaffung aufzurütteln. In der ersten Freude über die neugewonnene Freiheit kam eine Scheingenesung, die aber mit wirklicher Gesundung nichts zu tun hatte. Bürger, Bauern und Arbeiter, sie alle wollten das „Neue“ sehen und hören, das man ihnen solange vorenthalten hatte. Besonders war das auf dem Gebiet des Theaters zu bemerken. Jedes Stück war ausverkauft. Bald aber kam die Reaktion. Die große Masse strömte wieder vom Theater ab, wohl aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aus einer unbewußten Enttäuschung, daß dieses Neue doch nicht so neu und positiv war, als sie gewünscht hätten. Sie wandte sich wieder dem Kino zu, das ja für jeden Menschen die gewünschte Gefühlskonfektion auf Lager hatte. Die große Chance des Theaters, ein wirkliches Erziehungsmittel zu werden, war vergeben worden.

Wenn ein Mensch in seinem Leben einen schweren Schlag erleidet, so greift er seiner Veranlagung gemäß zu den verschiedensten Mitteln, um die Schockwirkung zu überwinden. Der Starke sucht im Glauben und in der Arbeit durch langsames, zähes Vorwärtsschreiten sein Gleichgewicht wieder zu finden. Goethe läßt Mephisto vom Faust sagen: „Staub soll er fressen, und mit Lust“, doch Mephisto weiß da noch nicht, daß „wer immer strebend sich bemüht“, erlöst werden kann. Anders der schwache Mensch. Er versucht das Rauschgift, das ihm mit einem Schlage entweder die ganze Grausamkeit .sekvs. Schicksals enthüllen oder für kurze Zeit den Vorhang über seine Leiden zuziehen soll. Auf dieser Linie scheinen auch die Verantwortlichen des Theaters überlegt zu haben. Um ihr Ziel, die Rückgewinnung des großen Publikums, zu erreichen, beschritten sie zwei Wege. Auf der einen Seite versuchten sie mit den besten darstellerisdien und regietechnischen Mitteln Realistik auf die Bühne zu bringen, die nervenaufpeitschend wirken sollte. Vorbilder dafür gab es genug. In Amerika wurde die Invasion durch Marsbewohner über den Rundfunk übertragen, in Frankreich brachte das Radio einen Bericht über eine die Erde verschlingende Atomkatastrophe, die Panik erzeugte, von dem neuen Sartre-Stüde in Kopenhagen hört man, daß die Anwendung von echten Marterwerkzeugen der Gestapo als Theaterrequisiten die Ohnmacht von Zuschauern zur Folge hatte. Wer erinnert sich nicht an jenen Gipfel der Gescbmacklo'ngkeit der Nazis, die als besondere Sendung im Zeitfunk Stukaangriffe übertrugen. Das Theater des Grand-Guignol — früher mit gelinden Gruseln belächelt — hatte von dunklen Boulevards aus seinen Weg in die Mitte der Gemeinschaft gefunden.

Auf der anderen Seite wurde eine mögliche Angleichung an den Film gesucht und man übertrug die Mittel des Drehbuches auf die Bühne. Der Großteil der Filme schwebt heute auf einer transzendentalen Wolke zwischen Himmel und Erde. So mußte auch das mit übernommen werden. Dem Wunsch des Menschen, dem übertriebenen Realismus des täglichen Lebens durch eine Wendung ins Übersinnliche zu entgehen, wurde Rechnung getragen. Aus der ständigen Furcht vor dem Tode wurde eine Handlung entwickelt, die das Sterben als Übergang in ein Dasein schildert, wo atlleS das selbstverständlich erscheint, was dem Menschen im Augenblick versagt ist. Auf der Sudie nach diesen beiden Gestaltungsmöglichkeiten wandte sich der Blick naturgemäß nach den Vereinigten Staaten, wo die Bindung zwischen Film uifd Bühne viel enger ist als in Europa. Daher die große Anzahl amerikanischer Dichter auf Wiener Bühnen.

Im Augenblick kann man Dramen beider Richtungen sehen. Die realistische Richtung war durch Steinbecks ,Der Mond geht unter“ und Werfeis „J a k o b o w s i“ bereits vertrete“ gewesen. In reinster Fassung sehen wir sie jetzt in Clifford Odets Stück „Die Zeit d r ä n g t“ in der Insel.Dieser Ausschnitt aus dem Leben einer New-Yorker Vorstadtfamilie, von der man nicht genau weiß, ob sie Mittelstand oder Proletariat ist, erschüttert. Es sind aber nicht che Schicksale der einzelnen Figuren, die uns bewegen, aber die Auffassungen, die sie vertreten, erschrecken. Es ist ein Blick in ein wüstes Interregnum, einem Kampf aller gegen alle, in dem der Starke den Schwachen unbedingt zur Strecke bringt. Von Fortschritt und von einer Gesetzgebung, die allen zugute kommen soll, wird nur so lange gesprochen, als man nicht die Tasdien voller Dollar hat. Erreicht man aber dieses einzig lockende Ziel nie, dann redet man also weiter — bis zum natürlichen oder selbstgewählten Tod. Gottlosigkeit wird als Klugheit hingestellt, Ethik in Hintertreppenromantik verwandelt und brutale Frechheit als Mittel zur Erlangung einer besseren Zukunft bezeichnet. Vater und “Mutter, Sohn und Tochter, Onkel und Großvater dieser Familie und der smarte Hausfreund zeichnen sich dadurch aus, daß ihre schlechten Charaktere die Voraussetzung für ein besseres I.eben abgeben sollen. Der einzige, der sich scheinbar Gedanken macht, ist der Schwiegersohn. Aber da er Europäer ist, zerbricht er natürlich an seiner Schwäche. Es ist reine Brutalität, die, von einem Unzufriedenen beschrieben, durch Theaterdirektoren im richtigen Moment zum Kassenstück erhoben wurde.

Auch die andere Richtung befriedigt nicht. Vorbereitet durch Vanes „Überfahrt“ und, im gewissen Sinne auch durch W i 1 d e r s „Kleine Stadt“, ist Osbornes „Der Himmel wartet“ im Volkstheater eine im billig Transzendenten schwebende Erzählung. Was ist doch der Tod im Straßenanzug für ein netter Mensch! Ruhig bleibt er auf dem Apfelbaum, auf den ihn der Schwur des nicht zum Sterben bereiten Großvaters gebannt hatte. Bevor er aber hinaufsteigt und nachdem er seinen unfreiwilligen Platz verläßt, nimmt er die Leute auf die beste Art und Weise mit. Man versteht gar nicht, zu welchem Zwecke man lebt. Gute und Böse, alte Sünder und unschuldige Kinder: sie kommen alle in ein Land, „wo das Gaisblatt ewig rankt“, wo man sich bei Glockengaläute und Wölkchen wie ein Zweijähriger fühlt. Wo auch die anderen schon samt dem verendeten Hund auf einen warten. Selten hat wohl ein Dichter mit soviel Humor soviel Leute ins Jenseits befördert.

Zwischen diesen beiden Extremen gärt es aber auch den gesunden Mittelweg. S a-r o y a n s Stück in der Josefstadt „Einmal im Leben“ ist eine ergreifende Ballade des alltäglichen Amerika. Es ist ein modernes Epos, in dem nicht die Handlung, sondern das Milieu wirkt. Hier hat ein neuer, wirklicher Dichter das Leibnizsche Prinzip von der „Besten aller Welten“ aufgegriffen und in moderne, in die Zukunft weisende Formen gegossen. Die kleine Bar in San Franzisko in einer übelbeleumundeten Gegend ist an sich nicht verderbt, trotz der merkwürdigen Gäste, die dort verkehren. Der Hafenarbeiter, der das Los seiner Kameraden verbessern will; die Dirne, die, um nicht im Schlamme des Lebens zu versinken, lügt; der Komiker, über den seine* todtraurigen, zeitgebundenen Humors wegen niemand lacht; der einfache, farbige Klavierspieler und der kleine Hasardeur, der sogar im banalen Spielautomaten sich an der Größe seines Landes begeistern kann: sie alle haben eine tiefe ethische Auffassung vom Leben. Sie alle sudien und versuchen, besser zu werden, mit anständigen Mitteln emporzusteigen. Wie im griediischen Drama tritt hier der Mensch, der dem eintönigen Alltag entfliehen wollte — in Gestalt des ständigen Bargastes —, als Sprecher und Lehrer einer modernen Philosophie auf. Solche Stücke sollte man öfter sehen können. Sie zeigen das Amerika von dem die Welt noch viel lernen kann.

Das Drama ist also scheinbar am Scheideweg angelangt. Das Theater sollte aber nie vergessen, daß ihm, wie seinen Mimen der Menschheit Würde in die Hand gegeben ist. Wenn das klar wird, kann auch über- den einzuschlagenden Weg kein Zweifel mehr sein.

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