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Dramatik des Menschlichen

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Das Akademietheater bringt Ferdinand Bruckners Schauspiel „Fährte n” zur Erstaufführung. — Wir erinnern uns an die Vorkriegsdramen dieses bedeutenden österreichischen Dramatikers, der kürzlich aus der Emigration heimgekehrt ist: an „Elisabeth von England”, zumal aber an jenen Zyklus, der eine einzigartige klinische Analyse der Katastrophe der deutschen Jugend zwischen 1920 und 1933 bot. Der Arzt Dr. Tagger setzt hier, als Dichter — „Ferdinand Bruckner” —, die Sonde eines scheinbar kühlen, in Wirklichkeit jedoch tief leidenschaftlichen Wahrheitswillens an die Wundstellen einer dekadenten Gesellschaft — er ist des Glaubens — wie F. Th. Csokor in seiner Begrüßungsansprache an den Heimgekehrten im PEN-Club ausführte —, daß das Aufzeigen des Verfalls, der Verderbnis bereits ein Akt, ein Werk der Heilung ist.

All diese Charakterzüge des Dramatikers Bruckner weist nun auch sein neues Schauspiel „Fährten” auf — es tritt aber hier noch etwas Neues, Neugereiftes hinzu, das uns aufhorchen macht. Noch nie trat in seinen früheren Werken die Liebe zur gequälten Menschenkreatur so deutlich in Erscheinung wie hier. Gewiß, sie war immer schon da; latent-gebunden in das scheinbar unbarmherzige Richtertum objektivisierender Schaustellung des Erbärmlichen, Schuldigen und Schuldhaften — jetzt ąber tritt sie groß und triumphierend vor die Öffentlichkeit dieses brutalen Lebens: der Zynismus der Wirklichkeit wird zerbrochen durch die Wirkkraft, durch die Glaubens- und Lebenskraft eines Menschenkindes, das, unbeirrbar durch die Halbheit und Lüge seiner Umwelt, sieghaft über die Schwächen seiner Mitmenschen und zuletzt auch über seine eigene Schuld seinen Lebensweg geht.

Eine müde, verdämmernde Welt; auf einem abgewirtschafteten Gutshof. Frau Pleß, die Gattin des Besitzers, gehört zu jenen Menschen, die vor der Härte und Hitze des Tages in die Kühle und Dämmer- nis ihrer Traumnächte fliehen; sie lebt ihren Rosen und ihren Träumen. Tschechows „Kirschgarten”-Atmosphäre webt und schwebt um sie. Pleß, ihr Gatte, ist ein vollsaftiger Kerl, der, unfähig, diese zarte und doch so eigenwillige Frau zu ertragen, sie und sich zugrunde richtet. Ein Spieler zudem, der aus Schwäche, Narrheit und geheimer Verzweiflung anderen Fallen stellt und nicht wissen will, daß er -dabei nur sich selbst immer tiefer und auswegloser in Schuld verfängt … Augenblicklich spielt er mit einer reichen Witwe. — Da begeht seine Frau Selbstmord. — Und nun kann sich das Drama entfalten — die Handlung —, denn nun ist ein Mensch da, der diese morsche Welt aus den Angeln hebt: Lene, die Magd. Sie kann nicht lesen, nicht schreiben und weiß nicht, woher sie kommt. Eines aber weiß sie: sie hat ein „Recht”; es ist das Recht des Kindes, das sie von Pleß erwartet — und für dieses „Recht” — das Recht aller unterdrückten, beleidigten und verspotteten Kreaturen — tritt sie entschlossen ihren irdischen Leidensweg an. — Ihre Umwelt schilt und beschimpft Lene, will sie vernichten. Pleß selbst nennt sie eine „kleine Ameise”, die er, wenn sie sich ihm in den Weg stellt, zerdrücken zu können vermeint. Um diesen Mann nun, der sie immer wieder von sich stößt, beginnt Lene den großen Kampf ihres Lebens; unerschütterlich glaubt sie an den guten Kern in ihm — auch als nahezu die ganze Welt ihn verläßt und er wegen des vermeintlichen Mordes an seiner Gattin in einem Indizien prozeß zu lebenslänglichem Kerker verurteilt wird. Lene selbst ist mitschuldig an diesem Urteil: sie hat vor Gericht falsch, zu Pleß’ Ungunsten, ausgesagt… Warum? In ihrer Verzweiflung sah sie keinen anderen Ausweg, um den geliebten Mann von der bösen „reichen Witwe”, tiefer noch, von seinem eigenen, schlimmeren Ich zu befreien! Wie oft hatte es dieses starke gerade Mädchen dem schwachen, auf ungeraden Wegen gehenden Mann vorgehalten: „Man kann nichtimmerspielen!” Immer wieder aber setzte er zu neuem Spiel, zu neuem Falschspiel in Gedanken, Worten und Werken an; erst im letzten Ernst des Gerichts bricht sein Spielertum zusammen. — Nun ist es an ihr, zu büßen — sie wird in den Kerker wandern. Er aber wird frei sein, zum erstenmal in seinem Leben; und er wird das Kind, ihr Kind, halten, behalten — und warten … Und der Hof wird aufblühen zu einem neuen, besseren Leben …

Wir halten ein so ausführliches Eingehen auf dieses Drama aus zwei Gründen für notwendig. Zum ersten, weil hier ein in der modernen Dramatik leider und in verhängnisvollster Weise so selten gewordenes Beispiel eines echten Schulddr amas gezeigt wird. Die „Helden” des Stücks sind keine „Götter”, „Heroen” oder Psychopathen, sie reden sich nicht auf Mythen, psychoanalytische Komplexe oder philosophische Theorien aus; sie sind vielmehr wirkliche Menschen, leid- und glück- und schuldbehaftet; und — dies ist das Wesentliche — sie lernen ihre Schuld erkennen, bekennen und gemeinsam tragen und ertragen!

Der Zweckoptimismus der nationalistischen Heroiker und Romantizisten und der Zweckpessimismus der nihilistischen Untergangs- pathetiker wird hier zugleich überwunden — in einem sehr sauberen Erwägen der Substanz und der Potenz des Menschlichen. Armut und Größe des Menschen … Ein nicht genug zu lobendes Bemühen!

Zum anderen: die schwache Aufführung des Akademietheaters erweist sich dem hohen Ziel dieser Dichtung wenig dienlich. Da die „Fährten” soeben im Wiener Schönbrunn- Verlag ab Büchlein erschienen sind, ist ein Vergleich jedermann gestattet; er fällt zuungunsten der Aufführung aus: diese hat weder Atmosphäre noch innere Dichte, sie längt zu sehr, krankt an Fehlbesetzungen und langt an allen Ecken und Enden nicht zurecht…

Die Stephansspieler haben in neuer Besetzung und Inszenierung „D i e Erste Legion” Emmet Laverys für ihre Vorarlberger und Schweizer Gastspielreise herausgebracht. — Dieses Elfmännerstück um ein Geschehen in einem amerikanischen Jesuitenkonvent wirkt durch die Echtheit seiner Probleme und Gestalten heute fast noch stärker ab bei seiner Wiener Uraufführung in der Josefstadt vor 12 Jahren. — Die Neuaufführung legt — und dies muß ihr verdankt werden — alle Akzente auf die Herausarbeitung der innermenschlichen Begebenheiten und Konflikte. Nicht geistliche Rhetoren und Philosophen, Dogmatiker und Kathedermenschen, nicht „Ungläubige” und „Gläubige” alten Stils tauschen hier Satz und Gegensatz aus: in der Brust jedes Menschen — in der des Pater Rektor und P. Marc Ahern, der nicht an das „Wunder” der Heilung seines kranken Mitbruders glauben kann, begibt sich ebenso wie in jener des Dr. Morell der große Kampf um Gott und um menschliche Einsicht seiner Wege. Nicht „Propagandisten der Idee”, sondern Männer, Menschen stehen hier auf der Bühne, mit ihren Sorgen, mit ihren Lasten. — Die sehr flüssige und warmherzige Interpretierung des großen Anliegens Laverys durch die Stephansspieler dürfte diesen auf ihrer Fahrt in den Westen manchen neuen Freund gewinnen.

Ja, ja, 1928 kam Fodors „Arm wie eine Kirchenmaus” im Akademietheater zur Uraufführung. Wie das Programm des Bürgertheaters vermeldet, haben es damals bereits 336 deutschsprachige Bühnen gespielt, in Paris, London und New York war der Erfolg bald nicht geringer als in Wien. Neu bearbeitet von Aldo Pinelli, mit Musik versehen von Ludwig Schmids- eder, feiert nun die „Kirchenmaus” im Bürgertheater sehr fröhliche Urständ!

Im Spätmittelalter wurde Europa durch eine populäre Legendenliteratur überschwemmt, die zu Nutz, Erbauung und Er- lustigung der Frommen erzählte, wie mit vielen Mühen wackere Jungfrauen im Kampf wider List und Unfug der bösen Welt das Himmelreich erstritten. — Im „neuen Mittel- alter” (um Berdjajevs Wort zu gebrauchen) hat das alte Klischee in Film, Fortsetzungsroman und Kolportageliteratur nur die Vorsatzschildchen — und die Spielebene — gewandelt. Das arme kleine, aber sehr tugendhafte Mädchen erkämpft wider List und Trug der bösen Umwelt das neue Himmelreich — Herz und Hand des großen reichen Mannes, des neuen Gottes einer neuen Welt. Auch dieser modernen Happy-End-Romantik ist der Erfolg absolut sicher, baut er doch auf sehr realen Grundlagen auf: das graugetönte, verengte Leben des modernen Massenmenschen, des „gemeinen Volkes” — einst misera plebs genannt — sehnt sich nach Lösung und Erlösung, nach Befreiung vom würgenden Drude kleinlich-peinlicher sozialer und pekuniärer Mißverhältnisse. Wie schön, daß die kleine Kirchenmaus, die Stenotypistin Susie Sachs aus der Josefstadt, ihren Stahlwerkpräsidenten bekommt! — Hundert Filme und Romane haben es ihr vorgesagt, hundert folgende werden es ihr nachsagen. — Das Publikum beklatscht beglückt die Realisierung seiner Traum wünsche auf der Bühne: ein großes Kind, das sich gerne etwas „Liebes” sagen und Vorsingen läßt. Und — wer dürfte es ihm verargen — außer jenem, der ihm wirklich Besseres zu geben weiß — an „Brot und Spielen”…?

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