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Urs Faes Roman "Liebesarchiv" schreibt frühere Romane weiter.

Mein Vater, sagte ich, hat die Grenze zu Deutschland gegen die jüdischen Flüchtlinge verteidigen müssen. Und einer von ihnen war jener Simon, der genausogut mein Vater sein könnte." - Der Schweizer Autor Urs Faes nimmt in seinem jüngsten Roman Liebesarchiv etliche thematische Fäden aus früheren Romanen wieder auf und webt sie kunstvoll weiter, insbesondere aus Sommerwende (1989) und Augenblicke im Paradies (1994), doch rückt diesmal ganz die Figur des Vaters in den Mittelpunkt.

Die Erzählung findet auf zwei Zeitebenen statt. Zum einen in der Rückblende auf jenes prägende Kindheitsjahr 1954, als der Vater des Ich-Erzählers (eines etwas blass geratenen Schriftstellers) plötzlich und unangekündigt für Monate verschwunden war, was die Mutter mit der halbherzig vorgebrachten Notlüge zu kaschieren suchte, er befände sich auf einer ausgedehnten Bergtour, ja einer Expedition gar. Später ist er zwar zurückgekehrt, doch war er ab diesem Zeitpunkt bis zu seinem langen Sterben bloß noch mürrischer, "zerknirschter" Gast im eigenen Haus. Ehefrau und Söhne haben ihm zeitlebens nicht verziehen: "Michael [der geistig behinderte Bruder] war im Heim. Die Mutter war im Laden oder in der Küche, der Vater im Keller oder im Garten." Treffender kann man das fortan triste und lieblose Familienleben nicht skizzieren.

Die zweite Zeitebene liegt in der Erzählgegenwart, wo der Erzähler mit der völlig unerwarteten Entdeckung konfrontiert wird, dass der Vater offenbar ein halbes Leben lang eine heimliche Geliebte gehabt hatte. Zusammen mit deren Tochter Vera (die gut auch seine Halbschwester sein könnte) macht sich Thomas anfangs widerstrebend auf die Spurensuche: Fotografien, Tagebücher, Briefe des Vaters - alles aus dem Besitz von Veras Mutter. Später findet sich in einem vergessenen Koffer auch das titelgebende Liebesarchiv. Thomas muss erkennen, dass sich das erinnerte Bild des Vaters mit jenem, welches aus diesen Hinterlassenschaften entsteht, in so gut wie nichts deckt. (Überraschenderweise enthält uns der Autor die Stimme des Vaters, die aus den Briefen spricht, aber vor.) Schon der Umstand, dass der Vater an jene Frau überhaupt geschrieben hat, wo er zuhause selbst das Ausfüllen der Zahlscheine der Mutter überließ, ist eine verstörende Erkenntnis.

Doch noch zwei weitere Vaterfiguren kommen ins Spiel: Jener Simon, der lettische Flüchtling, eine frühe große Liebe seiner Mutter, der sich vor den Nazis zwar in die vermeintlich sichere Schweiz flüchten konnte, dann aber abgeschoben wurde und "verloren ging", wie es die Mutter ausdrückte - möglicherweise Thomas' leiblicher Vater. (In Sommerwende nimmt diese Geschichte breiten Raum ein). Von diesem Mann ist nichts geblieben außer Bildern, und auch hier macht sich Thomas auf eine Spurensuche, die ihn durch halb Europa führt. - Und schließlich ist auch noch Veras Vater (wenn er es denn war) zu nennen, der eines Tages ebenfalls verschwunden ist …

Urs Faes Roman überzeugt durch seine unprätentiöse Sprache ebenso wie durch seine raffinierte Konstruktion, auch wenn die Geschichte gelegentlich an die Grenzen der Glaubhaftigkeit stößt (zum einen die gar schicksalshafte Verstrickung der Leben der drei Väter und vor allem: welcher Wirt hebt 50 Jahre lang einen vergessenen Koffer auf?). - Vieles bleibt bei dieser Reise in die Vergangenheit im Dunkel, doch führt die bewusste Auseinandersetzung mit dem lange innerlich abgelehnten Vater doch zu einer Überwindung der Kränkung und einer späten Aussöhnung.

Liebesarchiv

Roman von Urs Faes

Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007

228 Seiten, geb., € 20,40

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