6629197-1956_27_07.jpg
Digital In Arbeit

Dreimal klassisches Nationaltheater

Werbung
Werbung
Werbung

Zu einem Zeitpunkt, da die Festwochen schon im Abflauen begriffen waren, fast schon vorüber und gar nicht mehr so festlich, rückte das Burgtheater mit drei großen Ereignissen heraus, die dem ausklingenden Festwochenprogramm zu einem nahezu unvermutet glanzvollen Abschluß verhalfen.

Das erste Ereignis war eine prächtige Aufführung von Nestroys „Einen Jux will er sich machen“. Freilich ist die Meisterposse ein sicherer Griff in die Schatztruhe des Wiener Theaters, aber Leopold Lindtberg fügte es, daß Melchior, der vazierende Hausknecht im Hause Zangler und unsterbliche Herold der phlegmatischen Hälfte des Hauses Oesterreich, zu ihrem Prophet wurde: sein stereotypes Zitat „Das ist klassisch“ traf, was immer er im gegebenen Augenblick auch meinen mochte, vom Anfang bis zum Ende auf das Ganze zu. Auf Nestroy, auf seinen Weinberl, seine Christopherl, auf seinen Zangler, aber auch auf Josef Meinrad, Inge Konradi, Richard Eybner — und auf den Regisseur Lindtberg, dessen Werk es war, daß Stück und Aufführung so sehr zusammentrafen, daß sich in dem „Cwölb“ der „vermischten Warenhandlung“ die Wahrheit des echten Theaters wölbte und der Satiriker und Philosoph Nestroy sich lebendig und jung, und als ob er persönlich anwesend wäre, unter das Lachen seines hundertfünfzig Jahre alten Publikums mischte.

Der Klassiker und Gestalter, der Possenreißer und Bühnenroutinier Nestroy, ist Dichter im wahrsten Sinne der Bedeutung, die dieses Wort umschließt: er dichtete ein schillerndes, volkstümliches, heiteres Klagelied über die menschliche Unzulänglichkeit, ihre liebenswürdige Lächerlichkeit und das lächelnde Antlitz ihrer Tragik. Er ist Weltbürger, weil er seine „Randgemeinden“ der Kleinbürger in den Mittelpunkt des Menschentums stellte, er ist der klassische österreichische Weltbürger, weil er so wenig Aufhebens davon machte. Er ist Plautus und Shakespeare und Griltparzer in einem, er ist Somatisch und Kantisch, er ist Mozart des Theaters, Karl Kraus der Bühne, er ist Schnitzler und Polgar, Weinheber und Friedell in einem. Er ist der Genius des Wiener Theaters. Dieser Genius, in Nestroys zutiefst österreichische Diminutivform gekleidet, war es, der das Burgtheater einen Abend lang in ein wahrhaftes Nationaltheater verwandelte. Die Schauspieler hatten Wien, Nestroy und das Theater in jeder Geste: allen voran Inge Konradi als Christopherl, unbeschreiblich köstlich, sprühend und von eindringlicher Liebens-wertigkeit; Josef Meinrad in der Rolle des schwärmerischen Kommis Weinberl, die Personifizierung der behutsam gesetzten Pointe; und Adrienne Geßner als Tante Blumenblatt, ein Blatt Wiener Theatergeschichte für sich. Daneben die trefflichen Nestroy-Figuren Richard Eybner (als Zangler) und Ferdinand Maierhofer (Melchior) und die Damen Dagny Ser-vaes, Auguste Pünkösdy, Gusti Wolf und Elisabeth Höbarth. (In Episodenrollen kurz und gut: Hans Thi-mig, Tonio Riedl, Franz Böheim und andere). Die bunten und „ausgiebigen“ Bühnenbilder waren von Stefan Hlawa, die Kostüme von Elli Rolf. Musik von Adolf Müller sen., neue Coupletstrophen von Alexander Steinbrecher.

Das zweite Ereignis war ein Ereignis der Authentizität! Das Gastspiel des Norwegischen Nationaltheaters Oslo mit Ibsens dramatischem Gedicht „Peet Gyn t“. Zunächst gab es eine Ueberraschung: die Titelrolle war doppelt besetzt, die Verkörperung des jungen Peer Gynt im ersten Teil des Stückes lag in Händen des ganz außerordentlichen, jünglinghaften Toralv Maurstad, den gereiften und alten heimkehrenden Gynt im zweiten Teil spielte sein Vater (und Regisseur des Stückes) Alfred Maurstad. Auf jeder mitteleuropäischen Bühne würde solch Unterfangen unter den Vorzeichen eines gewagten Experimentes stehen, das ob seiner Zuläs-sigkeit heftig diskutiert würde, die Gäste, mit dem Recht der Handlungsfreiheit des „Kompetenten“ aber demonstrierten alle Vorteile, die sich daraus ergeben. — Wir sahen zum erstenmal einen altersmäßig seiner Rolle entsprechenden, wirklich jungen Peer Gynt, mit allen Möglichkeiten einer ungezwungenen — und tinerzwungsnen Gestaltung. So war denn auch der erste Teil ein äußerst eindrucksvolles Erlebnis, zumal wir in Toralv Maurstad einen glänzenden, dynamischen Schauspieler kennenlernten — einer der besten jungen Peer Gynts, der je auf einer unserer Bühnen zu sehen war, und zumal die von Edith Larsen sauber dargestellte Solveig, vor allem aber Liv Stromsted in der Rolle der „Grüngekleideten“ entscheidend beitrugen. Eine szenische Großleistung war der wilde Reigen der drei Saeterinnen, illustrativ die Grottenszene: ähnlich der Saeterinnenszene und der Gestaltung der Grüngekleideten, zweifellos im Zeichen einer richtigen Auffassung der betont sinnlich animalischen Abgründigkeit, mit der Ibsen seinen Peer Gynt ausstattete. Ueberdies der Ausdruck des volkstümlich Märchenhaften, eher Gespensterhaften als Geisterhaften, mehr zum Alpdruck als zum symbolisch Traumhaften tendierenden Element der nordischen Mystik. Gerade das war es wohl auch, das uns den zweiten Teil, da das Feuerwerk Toralv Maurstads fehlte, so fremd (und so flächig, ja fast einfältig, „uninszeniert“) erscheinen ließ, da Alfred Maurstad als alternder und alter Gynt seine Rolle mehr rezitierte als spielte, sich ganz offensichtlich nur dem Wort, kaum der Gestaltung widmete. Auch die Knopfgießerszene und die des „Mageren“ waren einfach, ohne beabsichtigte Symbolwirkung — wohl eine selbstverständlich Vermengung des Realen und Irrealen, die dem nordischen Zuschauer so „geläufig“ ist, daß sie nicht provoziert werden muß. Nicht sehr eindrucksvoll allerdings die Art der Bühnenbilder (von Arne Schau), ein etwas naiv anmutendes Gemisch von Kubismen und Jugendstilismen.

Zum dritten Ereignis wurde das Gastspiel des

Jugoslawischen dramatischen Theaters aus Belgrad: ein sprühendes Ensemble von Format, dessen Leistung vor allem, was Gäste heuer am Burgtheater zeigten, eindeutig an der Spitze lag. Auf dem Programm stand eine nach allen Sonnen des Südens glitzernde, vier Jahrhunderte alte Komödie „Onkel Marojes Dukaten“ von Marin D r z i c (in der Bearbeitung von Marko Fotez), ein handfestes und dabei bezwingend anmutiges Meisterwerkchen des Renaissancetheaters, dessen brillante Bühnentechnik und köstliche Charakterzeichnungen der Fertigkeit eines Plautus und der szenischen Vollkommenheit der Shakespeareschen und Goldonischen Komödien ebenbürtig sind — mit einem sehr entscheidenden Merkmal allerdings: sie wurde vor Shakespeare uraufgeführt. — Und auf dem Programm stand eine einzigartige Einheit grotesker, temperamentvoller Komik, gestalterischer Bühnenwirksamkeit, Situationswitz und Poesie, glänzender Einzelleistungen und präziser Ensemblearbeit. Hervorstechend Mira Stupica und Jozo Laurencic, in gleichem Maße aber auch Zarko Mitrovic, Dejan Dubajic, Karlo Bulic, Victor Starcic, Sonja Hlebsova, Dubravka Peric u. s. (Regie:

Bojan Stupica, Bühnenbild: Milenko Serban, Kostüm: Danka Pavlovic.)

Der letzte Festwochenbeitrag des Theaters der Courage waren zwei unter dem Titel „Das Le-ben nebenan“ uraufgeführte Einakter „Die Tochter“ und „Die Aktentasche“ der österreichischen Rundfunkautorin Ruth Kerry. Eine Reihe begabter Schauspieler, darunter Luise Prasser, Brigitte Köhler, Walter Langer, Kurt Mejstrik und Edith Hor-vay, bemühte sich ebenso tapfer wie erfolglos um zwei' für die Bühne gänzlich ungeeignete Hörspiele. (Regie: Helmut Wagner, Bühnenbild: Mosche Ekster-mann.)

Gleichfalls unter Berufung auf die Festspiele eröffnete in der Liechtensteinstraße eine Schar Wagemutiger ein relativ „luxuriöses“ neues Kellertheater und nannte es „Experiment“. Wir wünschen diesem 'Experiment alles erdenklich Gute, und obendrein, daß wir mit unseren Befürchtungen, daß unsere Wünsche nicht sehr viel nützen werden, unrecht haben mögen. Von einer Besprechung der zwei anläßlich der Er-öffnungspremiere gezeigten Stücke wollen wir absehen — es ist so schmerzlich, Hoffnungen zu zerstören. Schauspielerische Hoffnungen sind: Herbert Kucera, Georg Lhotsky und Charlotte Appelt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung