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"Drunt in Erdberg..."

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DIE ZWETTLER ANNALEN berichten von der „Ertpurch“. Der Hügel, auf-dem -heute die Erdberger Kirche steht, mag ein Rest der Bodenschwelle sein, auf dem sich die Erdburg erhob als Wehrbürg gegen den Osten. Von hier aus sah man die Berge der Hainburger Pforte blauen und von dort wieder erblickte man wohl die Erdburg. Später geht diese Burg aus dem Königsbesitz in den der Babenberger über. Urkunden bezeugen dies, wie die Siegelschrift vom 6. September 1249 aus „Hamburg“, mit der „Margaretha, römische Königin, Tochter Leopolds und Schwester Friedrichs von Oesterreich“ dem Ritterorden „zu ihrem Seelenheile ihre Erbgüter in Ertpurch samt einer Kapelle...“ schenkt. Von den Babenbergern hielt sich Leopold V. gern dort auf. Auch Friedrich II., der Sohn Leopold VI., weilte in Erdberg und stellte dort 1233, 1234 und 1239 (als er drei Monate lang Wien belagerte) Urkunden aus, was eine gewisse Bevorzugung dieses Gebietes gegenüber Wien andeutet. Erdberg war durch seine Lage immer feindlichen Angriffen ausgesetzt, und es gab wohl kaum eine Flut, die nicht ihre Wellen über dieses Gebiet gespült hätte: Ungarn, Religionswirren (von denen die Sage von der weißen Taube erzählt, an das Haus Nummer 23 in Erdberg und den Verbrennungstod des Wiedertäufers Baltasar Hubmayer geknüpft), die Türken, die Franzosen, das Jahr 1848 — und auch der letzte Krieg, dessen Bomben die Landstraße und damit Erdberg durchpflügten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts zählte die Vorstadt Erdberg 108 Häuser, von denen 90 im Besitze der Gärtner waren. Von den abseits lebenden, beschaulichen Menschen, die Jahrhunderte hindurch Wien mit Frischgemüse versorgten. brachten es einige zu Ansehen und Wohlstand. Ein lateinisches Gedicht aus dem Jahre 1732 schildert „Erdbergs Fruchtgärten“ in elegischen Distichen: „Dörflich und städtisch erblickest du hier die wechselnde Gegend, Ländlichen Pflanzungen reih’n traulich Paläste sich an." Sechsmal im Jahre bebauten mitunter diese Gärtner ihren Boden, von dem ein Quadratklafter 20 bis 30 Gulden kostete. Man kann sich wohl denken, wie sehr diese Menschen an ihrer Arbeit hingen, wie unlustig sie später sahen, daß Taglöhner sich ankauften, Hütten bauten und selbst „grünhandelten". Heute sorgen sich die Nachfahren der Erdberger Gärtner im Erdberger Mais um ihre Zukunft. Es ist auf ihrem Boden im Zuge der baulichen Neuordnung dieses Bezirksteiles die Errichtung eines Gemüse- und Obstmarktes geplant.

DIE POESIE DER GÄRTEN sucht man heute vergebens, da es um die Sanierung des alten Erdberg geht und die Bagger das Erdreich durchwühlen, das so oft Früchte getragen. Da und dort, in den engen Hinterhöfen der Landstraße, der Erdberger Straße, kümmern Bäume dahin. Ihnen wird die nächste Zeit kein anderes Schicksal bescheren als den Obst- bäümen zwischen der Hainburger Straße und der Gestettengasse. Sie hatten schon die Knospen angesetzt, um in diesem Frühjahre zu blühen. Dieser Tage taten die Zugkräne ganze Arbeit und schleppten die Bäume ab wie Tote. Als Mitgänger bei dem Begräbnis sind die Anrainer der Gegend dabei gewesen. Sie'stehen Tag für Tag am Rande der alten Gassen, starren mit stumpfgewordenem Blick auf das Rattern der Bagger, auf die schwingenden Spitzhacken, auf die sich in den Himmel hebenden Staubwolken: wenn Arbeitsruhe eingekehrt ist und das Dunkel niedersinkt, rpgt sich in den noch etwa verbliebenen Ruinen und zwischen den Ziegelstapeln und Altholzhaufen gespenstiges Leben. Man sucht Brennholz, man forscht nach brauchbaren Metallstücken, nach vergessenen Kacheln, Kabelteilen und größeren Glastafeln. Diesem Teile des dritten Wiener Bezirks mangelte das Lächeln der Grinzinger Häuser auch zur Zeit, da das rührselige Wiener Lied von den „liaben klanen“ Häusern sang und Franz Gruber, genannt „Das picksüße

Hölzl", den „Erdberger Tanz" komponierte, als noch zwischen Baumgasse, Kugelgasse, Leonhardgasse, Gestettengasse, Hainburger Straße und Schlachthausgasse die dörflichen Giebelhäuser standen und die Kinder in den typi schen, langgestreckten Höfen spielten, die sich von einer Gasse zur anderen zogen. Denn Erdberg war immer ein Dorf schwerer Arbeit, den Seufzern näher als dem Lachen. Seine Gaslaternen, die jetzt zu erhalten keine Rücksicht auf den Fremdenverkehr gebietet wie in Grinzing, leuchteten in enge Stuben, wo häufig die Armut daheim war — und die Schwindsucht. In einem einzigen alten Erdberger Haus wurden in 47 Wohnungen 16 Fälle offener Tuber kulose festgestellt. Diese Wohnungen sind aber in den meisten Fällen darnach gewesen. Aus einstigen Wirtschaftsgebäuden, . ja Ställen, entstanden jene Gelasse, die man jetzt, bei den Abbrucharbeiten, ungestiyt besehen kann. Entkleidet alles beschönigenden Schmuckes, offenbaren diese Behausungen. Armut, Hoffnungslosigkeit, Hingabe an primitive Genüsse, Leben von einem Tag auf den andern: eine Küche, etwa 1,50 Meter breit, drei Meter lang, 2,20 Meter hoch; Zimmer mit bestenfalls drei Metern im Geviert; ein WC im langen, etwa zwei Meter breiten Hofe für alle Bewohner.

DAS WIENER STADTGESICHT ist geprägt von der geschichtlichen Entwicklung und der mit ihr verbundenen' strukturellen, bevölkerungsmäßigen und beruflichen Umgliederung. Vom Jahre 1890 bis 1910 ist die Menschenzahl um das Neunfache gewachsen; in die Jahre zwischen 1830 und 1856 allein fällt ein Auseinanderstreben des Hauszuwachses um 18 Prozent und des Zuwachses der Wohnparteien um 29 Prozent; die Zähl der Bewohner stieg je Wohnung fast um ein Fünftel; der Bebauungsgrad der Parzellen von 40 bis 60 auf 8 5 bis 90 Prozent. Das bedeutete: Zunahme der Spannungen innerhalb der Familie und innerhalb der Gesellschaft. Wenn man vom Flugzeug aus das alte Erdberg besah,’ so kam es dem Beschauer vor wie ein verstreuter Steinhaufen — gemessen an den regelmäßigen Blöcken jenseits des Gürtels im Westen. Und doch waren beide Stadt- förmen gleich unmöglich. Drüben, in den eintönigen Gevierten, herrschte der Typ der Zim- mer-Küche-Wohnung mit „Bassena“ vor; hüben, wo die alten Dörfer mangels einer sozialen Funktion ihr inneres Leben eingebüßt hatten, der Typ der adaptierten Ställe. Von außen, ja, da sahen die alten Häuser um die Jahrhundertwende noch malerisch aus, obschon sie, wie das Erdberger Lied erzählt, „verpickt mit Lahm" (mit Lehm statt Mörtel als Bindemittel) waren. Wenn am Abend die Gaslaternen schienen und ihr mattes, nicht weit reichendes Licht verhüllt ließ, was die Stimmung stören konnte; wenn in einem Hofe das melancholische Lied einer Ziehharmonika erklang — dann mochte dem flüchtigen Besucher alles „lieb und klein“ Vorkommen. Aber jetzt, und im grellen Licht der Sonne, wirkt alles unsagbar bedrückend. Daran vermögen einstweilen nicht einmal die Neubauten, die riesig an den Rändern des zu sanierenden Gebietes wie Urweltvögel hocken, etwas zu ändern. Es wird aller architektonischen Kunst und einer feinfühligen Grünverteilung bedürfen, um nicht die alten Slums gegen neue zu vertauschen.

IM NELIEN ERDBERG, das eines der zu bearbeitenden 60 Sanierungsgebiete Wiens darstellt, werden nach den vorliegenden Plänen 1500 Wohnungen gegenüber früher vorhandenen 210 Wohnungen gebaut. Die Wohndichte reicht damit an die oberste Grenze der von 350 bis 530 Einwohner je Hektar zulässigen Bevölkerungsskala (genau werden es in Erdberg 520 Einwohner je Hektar sein). Das Baumodell, das wir sahen, weist für das neue Erdberg nicht riur die Niederlegung des verfallenen Altbestandes, sondern eine generelle Auflockerung des ganzen Gebietes auf. Auf die Bedeutung sozialen Grüns und die Differenzierung der Baumassen mit verschiedenen Gebäudehöhen sei besonders verwiesen: vom Flachbau über den mittelgroßen Wohnblock, bis zum, allerdings nicht überstark gesteigerten Hochbau, sind alle Wobnformen vorgesehen. Wichtig ist die Errichtung der sogenannten Werkstättenhöfe, von denen etliche im Bau sind. Das sind Mietwerkstätten für Gewerbetreibende. Auf diese neue Art werden die ansonst in den Häusern selbst oder unzureichend in den Höfen, hygienisch nicht immer vorteilhaft untergebrachten Betriebe bei einem wirtschaftlich gewahrten Bezug zur Umwelt gute Arbeitsplätze bieten. Die Ueberalterung der Bevölkerung wird auch hier die Notwendigkeit der Errichtung von Wohnstätten für alternde Menschen (Flachbauten) aufzeigen.

SO EIN ALTER MANN kommt uns entgegen, als wir in einen Hof eines noch von der Spitzhacke verschonten Hauses der Gestettengasse treten, weil eine alte Uhr auf einer Giebelwand mit sonderbaren Kugeln darüber unsere Neugier lockte. Nun: diese Kugeln sind nicht historische Grüße der Ungarn oder Türken, sondern sie bildeten das Läutewerk für die Fabrikarbeiter, die einmal hier beschäftigt waren. Für die Uhr hat sich das Uhrenmuseum der Stadt Wien bereits interessiert, hören wir, die Uhr sei nicht mehr verkäuflich! Nun, wir sind keine Antiquitätenjäger — das scheint es sogar hier zu geben. Wir wollen nur wissen, ob der alte Mann und seine Frau, die jetzt hinter ihm aus der Türwartwohnung tritt, lieber hier bleiben würden? „Nein!" sagt er energisch, „Wenn die Sonne scheint, hängen wir unsere Kleider aus den Schränken in der Wärme zum Trocknen auf. So naß ist’s bei uns!“ Er schweigt eine Weile und blickt dann wieder zur alten Uhr, der zwei Ziffern vom Zifferblatt fehlen. „Die Uhr aber dort oben, die haben schon meine Eltern gekannt... das ist schon lange her... Früher ist die Uhr in der Dietrichgasse in einer Kapelle gewesen ... jetzt steht sie ... niemand hat Geld, sie zu reparieren, Herr! Das Werk ist gut! Es fehlt ihr nur das Leben da rundherum — und die grünen Bäume . . ."

ALS LEBENSBAUM wird der zur Zypressenfamilie gehörige Tujabaum bezeichnet, den wir gewöhnlich auf den Friedhöfen antreffen. Ein Lebensbaum steht noch auf der kahlgewordenen Fläche nächst der Kugelgasse. Hoffentlich räumt ihn nicht ein Raupenschlepper weg. Er könnte ein Symbol sein des Lebens im alten Erdberg, wo Leben oft zugleich Trauer und Leiden hieß Friedhof begrabener Hoffnungen; fürder aber Leben, das sich aus Schutt emporringt zu zagent- Lächeln unter freiem Himmel.

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