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Durchs „Rote Meer”

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„JEDES WORT IST ZUVIEL und jedes Wort zuviel kann den Urteilsspruch .lebenslänglich” für hunderttausende Juden bedeuten, die zurückgeblieben sind; lebenslänglich hinter dem Eisernen Vorhang, lebenslänglich von Israel entfernt. Wir dürfen nicht sagen, wie es in Rumänien war, nicht, wie viele vor uns gingen, wie viele mit uns kamen und wie viele hinter uns kommen sollen. Jedes Wort kann das Urteil sein, und dabei sieht es so aus, als ob dieses Urteil nach dem letzten Protest der Araber schon gefällt sei. Gestern sagten sie uns in Rumänien noch, sie würden keine Juden bei sich lassen und froh sein, wenn der letzte Jude nach Israel gegangen ist. Heute schließen sie wieder die Tür durch den Eisernen Vorhang — knapp hinter uns.”

Wie pathetisch das aussieht, wenn es geschrieben steht. Aber es klang nicht pathetisch auf jiddisch und aus dem Mund eines Rabbi auf dem Weg von Rumänien nach Israel; als jüdischer Kommentar zum neuen Kapitel im historischen Handbuch für Spielregeln: „Wie spiele ich mit meinen Juden”, das gerade in Rumänien abrollt. „Wir sind wie durch das Rote Meer gezogen. Aber es kann sein, daß das Wasser hinter uns nicht über dem Heer des Pharao, sondern über unseren Brüdern zusammenschlägt, die zurückblieben.”

Zwischenlandung Wien: Mit rumänischem Geld kann auch auf dem Flugplatz nichts gekauft werden. Schillinge hat sie nicht und wird sie nicht bekommen, denn sie hält sich nur vier Stunden in Wien auf. Die alte Frau, die zum Büfett gekommen war, um sich eine Ansichtskarte zu kaufen, läßt die nutzlose rumänische Banknote am Büfett liegen. Sie geht zu ihrer Familie zurück, die eng beisammen steht und die Papierkoffer und Säcke, ihr Gepäck, um sich aufgebaut hat wie eine Wagenburg. Flüchtlinge stehen fast immer so — wie aufgescheuchtes Wild, das noch nicht weiß, wohin es geht. — Vier Stunden stehen sie hier, zwischen der volksdemokratischen Maschine, die sie herbrachte und der mächtigen Britannia der El-Al, die sie nach Israel bringen wird. Zwischen zwei Welten.

Es gibt wieder Wärtesäle in Wien, die voll sind von Auswanderern. — Aber über den Juden, die über Wien von Rumänien nach Israel reisen, liegt nicht nur die Atmosphäre der Ungewißheit ihrer Zukunft und des Schicksals der Zurückgebliebenen, sondern auch der Druck des Geheimnisses. Sozusagen durch die Hintertür ließ man sie aus dem Ostblock auswandern, um zu verhindern, daß die Araber davon erfahren. Weiß Gott, warum Chruschtschow plötzlich soviel Großzügigkeit entwickelte, die Polen, die Rumänen und die Ungarn dazu zu bewegen, eine Hintertür im Eisernen Vorhang für jene zu öffnen, die jahrzehntelang auf die „Allijah” warteten, auf den Aufstieg in das Gelobte Land. Am wenigsten wissen es die Juden in den Wartesälen Wiens, auch nicht der Rabbi, mit dem wir sprachen. — Will man in Moskau bloß den ewigen Unruheherd des in- stihktiv nach Freiheit forschenden Juden entfernen? Will man ein Gegengewicht gegen die unbotmäßig gewordenen Araber im Nahen Osten schaffen? Will man den unbequemen Traum der Juden von dem eigenen Land ein für allemal auslöschen, indem man die Schleusen für eine Welle aus Millionen jüdischer Auswanderer plötzlich öffnet, unter der die 20.000 Quadratkilometer, die heute Israel sind, ersticken können? Wir fragten viele — keiner wußte die Antwort. Die Last der Ungewißheit und des Geheimnisses liegt über dem Zug, der aus Rumänien nach Israel geht.

NUR DIESE TATSACHEN KÖNNEN GESAGT WERDEN: Zweieinhalb Millionen luden leben noch im Ostblock. Davon rund zwei Millionen in der Sowjetunion. Die russischen luden sind seit Jahrhunderten das heiße Herz des Judentums. Sie sind die heilige Gemeinde der Juden, aus der die tanzenden und singenden Chassidim kamen und die ersten Männer, die klassischen „Chaluzcim”, um aus der Wüste Palästina einen blühenden Judenstaat zu machen; unter ihnen Ben Gurion. Von den zweieinhalb Millionen Juden im Ostblock wollen höchstens 500.000 bleiben, wo sie sind, und langsam in der kommunistischen Umwelt aufgehen. Die anderen stauen sich in den jüdischen Gemeinden hinter dem Eisernen Vorhang und warten, bis ein Spalt sich öffnet für den Weg nach Israel. 20.0 Quadratkilometer umfaßt die Fläche von Israel. Davon ist ein Viertel die Steinwüste Negev, auf der jede Palme, jeder Getreidehalm in wochenlangem und meist aussichtlosem Kampf dem Boden abgerungen werden muß. 1,800.0 Juden wohnen auf diesen 20.000 Quadratkilometern, von denen 5000 nur Hoffnung auf künftigen Mineralreichtum geben, aber keine Lebensmöglichkeit in diesem Jahr oder im nächsten: das sind 90 Menschen auf einem Quadratkilometer, wenn man diese 5000 einbezieht.

Israel ist nicht nur ein Staat und ein Land, sondern auch ein Auftrag. Es wurde erst zum Staat, weil es von vornherein ein Auftrag gewesen war, es hat nur Existenzberechtigung, wenn der letzte Jude irgendwo auf der Welt, der aus Angst und Hoffnung sich nach Israel sehnt, dort aufgenommen werden kann. So warten jetzt die 1,800.000 Juden auf den 20.000 Quadratkilometern israelischen Bodens auf die zwei Millionen Juden aus dem Ostblock, die kommen wollen und die kommen müssen, wenn sie dem Judentum nicht ganz verlorengehen sollen.

Zehntausende Juden aus Polen, aus Ungarn, aus Rumänien sind schon durch Wien gezogen. Monatelang gelang es, den Mantel des Geheimnisses um den Zug zu erhalten. Dann platzte die Naht. Der Judenauszug aus Rumänien wurde „hot news” und der Inhalt arabischer Protestnoten.

VOR ZWEI WOCHEN NOCH SAH ES SO AUS, als ob ein Kapitel im Buche der jüdischen Tragödie zu Ende ginge und mit den letzten Seiten ein neues Kapitel begonnen hätte. Voller Hoffnungen — und voller Verzweiflung wartete Israel auf die zwei Millionen Juden aus dem Ostblock.

Inzwischen scheint es den Protesten Nasser1 gelungen zu sein, am Entschluß der kommu nistischen Regierungen zu rütteln. Und es sieh’ so aus, als ob das alte Kapitel noch lange nich zu Ende ginge, dessen Schauplatz die jüdischer Gemeinden im Ostblock sind. Als ob das neue Kapitel noch eine Zeitlang nicht aufgeschlagen würde, dessen Schauplatz ein Israel ist unter einer Welle von zwei Millionen neuer Ein-

wanderer, deren Ankunft es seit Jahren herbeisehnte und fürchtete.

„Allijah” heißt unter den Juden der Weg nach Israel: Aufstieg in das Gelobte Land. Die Juden in den Wartesälen von Wien sehen nicht wie „Aufsteigende” aus, die knapp vor dem Ziel sind. Eher wie Menschen, die aus einem dunklen Raum kommen, aber an einem Tag, der noch nicht weiß, was er will. Der Berg, zu dem sie aufsteigen, ist heiß umstritten und der Gipfel ist eng. Seit Jahrzehnten warteten sie auf den Stichtag zur „Allijah”. Er schien von Jahr zu Jahr weiter in die Ferne zu rücken. Sie warteten auf ihn wie auf den Messias, aber sie glaubten nicht mehr daran, daß er früher kommen werde. Die jüdischen Gemeinden in den Ostblockstaaten stellten sich nach einer kurzen Pause der Nachkriegshoffnung vollständig auf ein Leben ein, in dem Israel für die anderen ist und für sie selbst nur der kommunistische Staat. Sie schlossen sich geistig vollständig von der Umwelt ab und wurden wiederum zu Ghettos. Wer in den vergangenen Jahren in die Ostblockstaaten reiste und bis in die Weiten und in die Tiefen Vordringen konnte, in denen die jüdischen Gemeinden liegen — es war sehr schwer, Fallen und Hindernisse verstellten den Weg, und die Gemeinden selbst taten natürlich alles, um unentdeckt zu bleiben —, glaubte, plötzlich in die engen Mauern eines mittelalterliehen Judenviertels eingebrochen zu sein. Imaginäre Mauern aus Gesten des täglichen Lebens und der Assimilierung an die kommunistische Umwelt nach außen hin und einer unglaublichen Intensivierung des jüdischen Denkens im Inneren. Zwei undurchdringliche Barrieren schlossen die jüdischen Gemeinden zwischen der deutschen Demarkationslinie und dem Ural, zwischen der Ostsee und Budapest, besonders aber die Gemeinden in Rumänien ein. Die imaginäre Ghettomauer liegt zwischen ihnen und der kommunistischen Umwelt, der Eiserne Vorhang liegt zwischen ihnen und der jüdischen Welt, deren Zentrum und Krone für sie Israel ist. Nun scheint eine Hintertür in beiden Barrieren geöffnet worden zu sein, für die Juden, die in Wien Zwischenstation machten. Aengst- lich sehen sie zurück, ob die Tür wieder ins Schloß fällt, ängstlich sehen sie nach vorne, ob Israel sie aufnehmen kann.

DAS LAND ISRAEL IST LANGSAM MÜDE GEWORDEN, das merkt man auf den Straßen von Tel Aviv, in den neuen Wohnbauvierteln rund um den Beduinenmarkt von Beer Sheba und im sonnendurchtränkten Eilath am Golf von Akkaba. Welle auf Welle von Einwanderungen kam ins Land. Jemenitische Juden, mit Köpfen, Gestalten und fliegenden Bärten wie auf El-Greco-Bildern, wurden aus der arabischen Sklaverei eingeflogen. Marokkanische Juden kamen in Schiffsladungen an. Juden aus Aegypten, Juden aus dem Irak. Der fruchtbare Boden breitet sich aus und frißt sich langsam in die Steinwüste des südlichen Negev; neue Industrien entstehen, von denen im Nahen Osten sich niemand träumen ließ — aber das Land ist kein Schuh, den man dehnen kann. Die Enge der Grenzen blieb — man kann bei Askalon mit freiem Auge von Grenze zu Grenze sehen —, und die Juden führen seit dem Tag, an dem sie ihren Staat gründeten, einen Dreifrontenkrieg: gegen die arabische Umwelt, gegen die Enge ihres Landes und die Sprödigkeit des Bodens, und für die hunderttausende Emigranten, die kamen, für die Millionen, die noch kommen sollen.

Die Juden, die aus Rumänien kommen und nach Israel wollen, fragen: Welche Zukunft wartet auf uns? Sie fühlen die Erlösung, dem kommunistischen Rumänien entkommen zu sein. — „Wir wußten, daß es drüben”, er meint schon Rumänien, wenn er drüben sagt, „zu den ungeschriebenen Punkten des kommunistischen Planes gehört, das Judentum zu liquidieren. Nicht physisch und durch Mord, sondern durch den Druck der Umwelt und durch Assimilation. Das kann gefährlicher sein als offener Terror. Jetzt wissen wir, daß wir wieder Juden bleiben können.” — Es sind unwahrscheinlich primitive Menschen unter den Juden, die in den Wfener Wartesälen auf die Reise nach Israel warten. Die Sicherheit, Jude bleiben zu dürfen, ist für sie sichtlich alles, was sie von der „freien Welt” verstehen und erwarten. Aber da kommt die Frage über ihre Zukunft. „Welche Zukunft wartet auf uns?” „Werden wir in Israel existieren können?” Und dann verschämt und so, daß es die anderen nicht hören können, fragen manche bereits: „Wie geht es von dort nach Amerika, nach Australien, nach Kanada?”

Und ich verstehe es, was der Rabbi meinte: „Ich bin nicht ganz sicher, ob es schon d i e .Allijah” ist, ob es schon das Gelobte Land ist, die gemeint und bestimmt sind. Oder ob Israel nicht nur eine Zwischenstation ist, auf dem Weg zu einer zweiten Diaspora?”

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