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Edison konnte es nicht ahnen

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„NEIN, DANKE!“, SAGTE DIE 18jährige Elfriede P. auf die Frage der Verkäuferin, ob sie noch einen Wunsch habe. Sie hatte eben drei Langspielplatten in einem Stadtge-chäft erworben, nahm den Rest des Geldes in Empfang und ging mit der „Beute“ weg: Bill Ramsey, Fischer-Dieskau und die Rolling Stones mit einer ihrer letzten Aufnahmen. Also gemischte Kost. Elfriede hätte aber, wäre sie ganz up to date gewesen, verlangen müssen: das „Oscar Peterson Trio with Clark Terry“, zwei Jazz-Köche von Super-format, die auf großer Flamme ein Swing-Festessen für Gourmets bereiten, wie es in der Ankündigung heiißt. „Aber, sie werden staunen“, sagt Helga S., die Verkäuferin, „gemischte Kost ist am beliebtesten. Man will womöglich von jedem etwas heimtragen.“ Das dürfte nicht nur in Wien so sein. Es passiert zur gleichen Stunde in tausenden Schallplattengeschäften der Alten und Neuen Welt.

Davon hätte Thomas Alva Edison an jenem Sommernachmittag des Jahres 1877, als er seine erste Sprechmaschine, schlicht Phonogramm genannt, vor Zeugen vorführte, nicht zu träumen gewagt. Er konnte ja nicht ahnen, daß das Gebilde aus Wachs einmal eines der unentbehrlichsten Requisiten im Wohlstands-Zoo sein würde, edne Großmacht im Grabenkrieg des Kulturkonsums. Damals gab es aber noch keine* Platte; sie war erst ein Produkt späterer Jahre. Edison dachte zuerst daran, die Sprechwalze in den Dienst der Völkerverständigung zu stellen, empfahl die Schallplatte als Hilfsmittel zum Sprachunterricht. Man kennt ja die großformatigen Anzeigen „Learn English by re-cords“.

IN DER TAT, IN DER ERSTEN Zeit dienten die Platten zur Aufnahme der königlichen und kaiserlichen Stimmen. So ist Kaiser Franz Josephs leicht wienerisches Organ ebenso erhalten wie Kaiser Wilhelms II. forscher Kasinoton. Beide Platten sind ausgesprochene Raritäten. Es gibt aber auch Platten von Kainz und Moissi, von Hindenburg und Clemenceau. Sie sind akustische Dokumente. 1926 setzte sich die elektrische Aufnahme durch. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Langspielplatte auf den Markt. Soviel zur Entwicklung.

150 S bekommt die 16jährige Schülerin Anni M. als monatliches Taschengeld. („Ich soll damit auskommen, meint Mutti!“) Davon kauft sie sich die diversen Schulsachen, aber auch Schallplatten und Kosmetika. Sie gehört somit zu der Wirtschaft liebsten Kindern. Von 100 verkauften Platten sind 88 Schlagerplatten. Man rechne nun aus, was es heißt, wenn in den USA Jahr um Jahr 500 Millionen Dollar (=12,5 Milliarden S) für Schallplatten ausgegeben werden! In der Bundesrepublik wurden 1960 für rd. 67 Mülionen DM Platten gekauft (1949 waren es „nur“ 6 Millionen DM). Über die Hälfte des Käuferkontingents setzt sich in beiden Ländern aus Teenagern zusammen; in England, Schweden und Frankreich ist es ähnlich. Was Wunder, daß die Schlagersänger zu Millionären werden. Ein Beispiel: „I'm dreaming of a white Christmas“, ein Lied, das eine Gesamtauflage von 23 Millionen Platten erlebte. Der US-Spitzenstar Frank Sinatra verdient 42,3 Millionen S im Jahr, seine Spielsalons allerdings eingeschlossen; Catärina Valente hat ein jährliches Fixum von drei Millionen S bei der Teldec. Angesichts der Produktionskosten (Schlagerproduktion etwa 150.000 S, Produktion einer Symphonie etwa 550.000 S) begreift man leicht, weshalb die Schlagerplatte an der Spitze steht.

1956 erlitt die Schlagerkomposition einen Rückschlag, was auf die Entstehung des Rock 'n' Roll zurückzuführen war. Die Plattenindustrie hat das mittlerweile aufgeholt, nicht zuletzt dank der Langspielplatte, die es z. B. möglich macht, eine Wagner-Oper auf nur vier Platten zu bannen. Zudem hat sich das Angebot enorm vermehrt. Es gibt praktisch alles auf Schallplatten: Dokumentation, Kabarett, Theater, Rezitation und natürlich Musik, Musik, Musik.

„BITTE, ICH MÖCHT' GERNE SOLCHE Schlager aus den zwanziger Jahren“, sagt der 17jährige Erich L., Praktikant in der Textil-branohe. Sein Wunsch ist Symptom.Der Drang zum Vorväterhausrat paart sich mit dem Drang zur alten Welle von gestern und vorgestern. Zumeist sind es 17-cm-„Single“-Platten, auf denen „O Donna Clara“, „Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen“, „Das gibt's nur einmal“ und „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“ drauf ist. Die Platten von gestern dagegen heißen „Roter Mohn“ mit Rositta Serrano, „Ich bin heute ja so verliebt“ mit Willi Forst oder „You are my sunshine“. Im allgemeinen ist ein deutlicher Zug nach oben zu beobachten. Die Schlagerfreunde von gestern wenden sich der gehobenen Schlager- und Operettenmusik zu. Die Operettenfreunde wagen sich an den Opernquerschnitt heran, wogegen die letzteren zu den Gesamtaufnahmen bzw. zur klassischen Instrumentalmusik tendieren. Beweise: Die Platten Grace Brumbys gehen reißend, weniger die der Callas. Aber das ist nur relativ gesehen.

ÜBER EINEN NICHT minder deutlichen Hang zum Ungewöhnlichen berichtet eine deutsche Plattenfirma. Das von Marlene Dietrich zugunsten der Unicef-Kinderhilfe kreierte Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“, erwies sich als „Kartonware“. Also Ware, die selbst an die kleinen Händler nur kartonweise geliefert wird. „Deutschlands Weg in den Untergang“, mit Stimmen von Hitler, Göring und den anderen Verführern, schlug nicht so ein. Der Jugend sagt das Gebell nichts, und die Alten haben es ja selbst am Volksempfänger erlebt. Um eine wirkliche Kostbarkeit ist die Nachfrage groß, nämlich um die einzige Schallplatte der Greta Garbo mit Szenen aus ihren Filmen.

DEM GEMÜT TRAGEN FAST ALLE großen Plattenfirmen Rechnung. „Jugend und Mittelalter verlangen“, sagt Frau Maria C, die Inhaberin einer Plattenhandlung, „Blasmusik, so etwa die Lustigen Ober-krainer, deren volkstümliche Arrangements in viele tausend bürgerliehe Heime wanderten.“ Für die alten Kameraden aus den beiden Weltkriegen gibt es Landserlieder: „Wovon kann der Landser denn schon träumen?“ — „Ist das Lied vom Edelweiß auch drauf?“, fragt ein etwa 45jähriger Mann. Er war damals im Kaukasus gewesen und möchte dieses Lied heute als Zivilist hören. Marschmusik ist ein fixer Posten beim Angebot. Altösterreichische Weisen, vom „Deutschmeister-Herrmann“ oder von den Bundes-heerkapellen dargeboten, hört man gerne. Auch die Märsche anderer Nationen gibt es in reicher Auswahl, wie etwa eine „NATO-Platte“. Sogar auf Napoleon kann man zurückgreifen („Marche de la Garde Consulaire ä Marengo“) oder zum berühmten „It's a long way to Tipperary, das man an der Westfront 1914—1918 sang. Natürlich ist der „Herr Karl“ nach wie vor gefragt, ebenso Georg-Kreisler-Chansons. Kurz, wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, sagen die Produzenten und auch die Händler. Darum gibt es Wühltische wie in den Kaufhäusern. Dabei wird der Appetit größer, vor allem nach den Schlagern. Während die Platte mit ernster Musik und Literatur nur eine Konserve des aufgeführten Werkes ist, ist der Schlager wirklich plattengebunden.

Ohne die Schallplatte wäre der Schlager kein Schlager, meinte Werner Richard Heymann einmal. Und so wird es wohl bleiben. Aber davon hatte Edison ja keine blasse Ahnung ...

„NEIN, DANKE!“, SAGTE DIE 18jährige Elfriede P. auf die Frage der Verkäuferin, ob sie noch einen Wunsch habe. Sie hatte eben drei Langspielplatten in einem Stadtge-chäft erworben, nahm den Rest des Geldes in Empfang und ging mit der „Beute“ weg: Bill Ramsey, Fischer-Dieskau und die Rolling Stones mit einer ihrer letzten Aufnahmen. Also gemischte Kost. Elfriede hätte aber, wäre sie ganz up to date gewesen, verlangen müssen: das „Oscar Peterson Trio with Clark Terry“, zwei Jazz-Köche von Super-format, die auf großer Flamme ein Swing-Festessen für Gourmets bereiten, wie es in der Ankündigung heiißt. „Aber, sie werden staunen“, sagt Helga S., die Verkäuferin, „gemischte Kost ist am beliebtesten. Man will womöglich von jedem etwas heimtragen.“ Das dürfte nicht nur in Wien so sein. Es passiert zur gleichen Stunde in tausenden Schallplattengeschäften der Alten und Neuen Welt.

Davon hätte Thomas Alva Edison an jenem Sommernachmittag des Jahres 1877, als er seine erste Sprechmaschine, schlicht Phonogramm genannt, vor Zeugen vorführte, nicht zu träumen gewagt. Er konnte ja nicht ahnen, daß das Gebilde aus Wachs einmal eines der unentbehrlichsten Requisiten im Wohlstands-Zoo sein würde, edne Großmacht im Grabenkrieg des Kulturkonsums. Damals gab es aber noch keine* Platte; sie war erst ein Produkt späterer Jahre. Edison dachte zuerst daran, die Sprechwalze in den Dienst der Völkerverständigung zu stellen, empfahl die Schallplatte als Hilfsmittel zum Sprachunterricht. Man kennt ja die großformatigen Anzeigen „Learn English by re-cords“.

IN DER TAT, IN DER ERSTEN Zeit dienten die Platten zur Aufnahme der königlichen und kaiserlichen Stimmen. So ist Kaiser Franz Josephs leicht wienerisches Organ ebenso erhalten wie Kaiser Wilhelms II. forscher Kasinoton. Beide Platten sind ausgesprochene Raritäten. Es gibt aber auch Platten von Kainz und Moissi, von Hindenburg und Clemenceau. Sie sind akustische Dokumente. 1926 setzte sich die elektrische Aufnahme durch. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Langspielplatte auf den Markt. Soviel zur Entwicklung.

150 S bekommt die 16jährige Schülerin Anni M. als monatliches Taschengeld. („Ich soll damit auskommen, meint Mutti!“) Davon kauft sie sich die diversen Schulsachen, aber auch Schallplatten und Kosmetika. Sie gehört somit zu der Wirtschaft liebsten Kindern. Von 100 verkauften Platten sind 88 Schlagerplatten. Man rechne nun aus, was es heißt, wenn in den USA Jahr um Jahr 500 Millionen Dollar (=12,5 Milliarden S) für Schallplatten ausgegeben werden! In der Bundesrepublik wurden 1960 für rd. 67 Mülionen DM Platten gekauft (1949 waren es „nur“ 6 Millionen DM). Über die Hälfte des Käuferkontingents setzt sich in beiden Ländern aus Teenagern zusammen; in England, Schweden und Frankreich ist es ähnlich. Was Wunder, daß die Schlagersänger zu Millionären werden. Ein Beispiel: „I'm dreaming of a white Christmas“, ein Lied, das eine Gesamtauflage von 23 Millionen Platten erlebte. Der US-Spitzenstar Frank Sinatra verdient 42,3 Millionen S im Jahr, seine Spielsalons allerdings eingeschlossen; Catärina Valente hat ein jährliches Fixum von drei Millionen S bei der Teldec. Angesichts der Produktionskosten (Schlagerproduktion etwa 150.000 S, Produktion einer Symphonie etwa 550.000 S) begreift man leicht, weshalb die Schlagerplatte an der Spitze steht.

1956 erlitt die Schlagerkomposition einen Rückschlag, was auf die Entstehung des Rock 'n' Roll zurückzuführen war. Die Plattenindustrie hat das mittlerweile aufgeholt, nicht zuletzt dank der Langspielplatte, die es z. B. möglich macht, eine Wagner-Oper auf nur vier Platten zu bannen. Zudem hat sich das Angebot enorm vermehrt. Es gibt praktisch alles auf Schallplatten: Dokumentation, Kabarett, Theater, Rezitation und natürlich Musik, Musik, Musik.

„BITTE, ICH MÖCHT' GERNE SOLCHE Schlager aus den zwanziger Jahren“, sagt der 17jährige Erich L., Praktikant in der Textil-branohe. Sein Wunsch ist Symptom.Der Drang zum Vorväterhausrat paart sich mit dem Drang zur alten Welle von gestern und vorgestern. Zumeist sind es 17-cm-„Single“-Platten, auf denen „O Donna Clara“, „Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen“, „Das gibt's nur einmal“ und „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“ drauf ist. Die Platten von gestern dagegen heißen „Roter Mohn“ mit Rositta Serrano, „Ich bin heute ja so verliebt“ mit Willi Forst oder „You are my sunshine“. Im allgemeinen ist ein deutlicher Zug nach oben zu beobachten. Die Schlagerfreunde von gestern wenden sich der gehobenen Schlager- und Operettenmusik zu. Die Operettenfreunde wagen sich an den Opernquerschnitt heran, wogegen die letzteren zu den Gesamtaufnahmen bzw. zur klassischen Instrumentalmusik tendieren. Beweise: Die Platten Grace Brumbys gehen reißend, weniger die der Callas. Aber das ist nur relativ gesehen.

ÜBER EINEN NICHT minder deutlichen Hang zum Ungewöhnlichen berichtet eine deutsche Plattenfirma. Das von Marlene Dietrich zugunsten der Unicef-Kinderhilfe kreierte Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“, erwies sich als „Kartonware“. Also Ware, die selbst an die kleinen Händler nur kartonweise geliefert wird. „Deutschlands Weg in den Untergang“, mit Stimmen von Hitler, Göring und den anderen Verführern, schlug nicht so ein. Der Jugend sagt das Gebell nichts, und die Alten haben es ja selbst am Volksempfänger erlebt. Um eine wirkliche Kostbarkeit ist die Nachfrage groß, nämlich um die einzige Schallplatte der Greta Garbo mit Szenen aus ihren Filmen.

DEM GEMÜT TRAGEN FAST ALLE großen Plattenfirmen Rechnung. „Jugend und Mittelalter verlangen“, sagt Frau Maria C, die Inhaberin einer Plattenhandlung, „Blasmusik, so etwa die Lustigen Ober-krainer, deren volkstümliche Arrangements in viele tausend bürgerliehe Heime wanderten.“ Für die alten Kameraden aus den beiden Weltkriegen gibt es Landserlieder: „Wovon kann der Landser denn schon träumen?“ — „Ist das Lied vom Edelweiß auch drauf?“, fragt ein etwa 45jähriger Mann. Er war damals im Kaukasus gewesen und möchte dieses Lied heute als Zivilist hören. Marschmusik ist ein fixer Posten beim Angebot. Altösterreichische Weisen, vom „Deutschmeister-Herrmann“ oder von den Bundes-heerkapellen dargeboten, hört man gerne. Auch die Märsche anderer Nationen gibt es in reicher Auswahl, wie etwa eine „NATO-Platte“. Sogar auf Napoleon kann man zurückgreifen („Marche de la Garde Consulaire ä Marengo“) oder zum berühmten „It's a long way to Tipperary, das man an der Westfront 1914—1918 sang. Natürlich ist der „Herr Karl“ nach wie vor gefragt, ebenso Georg-Kreisler-Chansons. Kurz, wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, sagen die Produzenten und auch die Händler. Darum gibt es Wühltische wie in den Kaufhäusern. Dabei wird der Appetit größer, vor allem nach den Schlagern. Während die Platte mit ernster Musik und Literatur nur eine Konserve des aufgeführten Werkes ist, ist der Schlager wirklich plattengebunden.

Ohne die Schallplatte wäre der Schlager kein Schlager, meinte Werner Richard Heymann einmal. Und so wird es wohl bleiben. Aber davon hatte Edison ja keine blasse Ahnung ...

„NEIN, DANKE!“, SAGTE DIE 18jährige Elfriede P. auf die Frage der Verkäuferin, ob sie noch einen Wunsch habe. Sie hatte eben drei Langspielplatten in einem Stadtge-chäft erworben, nahm den Rest des Geldes in Empfang und ging mit der „Beute“ weg: Bill Ramsey, Fischer-Dieskau und die Rolling Stones mit einer ihrer letzten Aufnahmen. Also gemischte Kost. Elfriede hätte aber, wäre sie ganz up to date gewesen, verlangen müssen: das „Oscar Peterson Trio with Clark Terry“, zwei Jazz-Köche von Super-format, die auf großer Flamme ein Swing-Festessen für Gourmets bereiten, wie es in der Ankündigung heiißt. „Aber, sie werden staunen“, sagt Helga S., die Verkäuferin, „gemischte Kost ist am beliebtesten. Man will womöglich von jedem etwas heimtragen.“ Das dürfte nicht nur in Wien so sein. Es passiert zur gleichen Stunde in tausenden Schallplattengeschäften der Alten und Neuen Welt.

Davon hätte Thomas Alva Edison an jenem Sommernachmittag des Jahres 1877, als er seine erste Sprechmaschine, schlicht Phonogramm genannt, vor Zeugen vorführte, nicht zu träumen gewagt. Er konnte ja nicht ahnen, daß das Gebilde aus Wachs einmal eines der unentbehrlichsten Requisiten im Wohlstands-Zoo sein würde, edne Großmacht im Grabenkrieg des Kulturkonsums. Damals gab es aber noch keine* Platte; sie war erst ein Produkt späterer Jahre. Edison dachte zuerst daran, die Sprechwalze in den Dienst der Völkerverständigung zu stellen, empfahl die Schallplatte als Hilfsmittel zum Sprachunterricht. Man kennt ja die großformatigen Anzeigen „Learn English by re-cords“.

IN DER TAT, IN DER ERSTEN Zeit dienten die Platten zur Aufnahme der königlichen und kaiserlichen Stimmen. So ist Kaiser Franz Josephs leicht wienerisches Organ ebenso erhalten wie Kaiser Wilhelms II. forscher Kasinoton. Beide Platten sind ausgesprochene Raritäten. Es gibt aber auch Platten von Kainz und Moissi, von Hindenburg und Clemenceau. Sie sind akustische Dokumente. 1926 setzte sich die elektrische Aufnahme durch. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Langspielplatte auf den Markt. Soviel zur Entwicklung.

150 S bekommt die 16jährige Schülerin Anni M. als monatliches Taschengeld. („Ich soll damit auskommen, meint Mutti!“) Davon kauft sie sich die diversen Schulsachen, aber auch Schallplatten und Kosmetika. Sie gehört somit zu der Wirtschaft liebsten Kindern. Von 100 verkauften Platten sind 88 Schlagerplatten. Man rechne nun aus, was es heißt, wenn in den USA Jahr um Jahr 500 Millionen Dollar (=12,5 Milliarden S) für Schallplatten ausgegeben werden! In der Bundesrepublik wurden 1960 für rd. 67 Mülionen DM Platten gekauft (1949 waren es „nur“ 6 Millionen DM). Über die Hälfte des Käuferkontingents setzt sich in beiden Ländern aus Teenagern zusammen; in England, Schweden und Frankreich ist es ähnlich. Was Wunder, daß die Schlagersänger zu Millionären werden. Ein Beispiel: „I'm dreaming of a white Christmas“, ein Lied, das eine Gesamtauflage von 23 Millionen Platten erlebte. Der US-Spitzenstar Frank Sinatra verdient 42,3 Millionen S im Jahr, seine Spielsalons allerdings eingeschlossen; Catärina Valente hat ein jährliches Fixum von drei Millionen S bei der Teldec. Angesichts der Produktionskosten (Schlagerproduktion etwa 150.000 S, Produktion einer Symphonie etwa 550.000 S) begreift man leicht, weshalb die Schlagerplatte an der Spitze steht.

1956 erlitt die Schlagerkomposition einen Rückschlag, was auf die Entstehung des Rock 'n' Roll zurückzuführen war. Die Plattenindustrie hat das mittlerweile aufgeholt, nicht zuletzt dank der Langspielplatte, die es z. B. möglich macht, eine Wagner-Oper auf nur vier Platten zu bannen. Zudem hat sich das Angebot enorm vermehrt. Es gibt praktisch alles auf Schallplatten: Dokumentation, Kabarett, Theater, Rezitation und natürlich Musik, Musik, Musik.

„BITTE, ICH MÖCHT' GERNE SOLCHE Schlager aus den zwanziger Jahren“, sagt der 17jährige Erich L., Praktikant in der Textil-branohe. Sein Wunsch ist Symptom.Der Drang zum Vorväterhausrat paart sich mit dem Drang zur alten Welle von gestern und vorgestern. Zumeist sind es 17-cm-„Single“-Platten, auf denen „O Donna Clara“, „Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen“, „Das gibt's nur einmal“ und „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“ drauf ist. Die Platten von gestern dagegen heißen „Roter Mohn“ mit Rositta Serrano, „Ich bin heute ja so verliebt“ mit Willi Forst oder „You are my sunshine“. Im allgemeinen ist ein deutlicher Zug nach oben zu beobachten. Die Schlagerfreunde von gestern wenden sich der gehobenen Schlager- und Operettenmusik zu. Die Operettenfreunde wagen sich an den Opernquerschnitt heran, wogegen die letzteren zu den Gesamtaufnahmen bzw. zur klassischen Instrumentalmusik tendieren. Beweise: Die Platten Grace Brumbys gehen reißend, weniger die der Callas. Aber das ist nur relativ gesehen.

ÜBER EINEN NICHT minder deutlichen Hang zum Ungewöhnlichen berichtet eine deutsche Plattenfirma. Das von Marlene Dietrich zugunsten der Unicef-Kinderhilfe kreierte Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“, erwies sich als „Kartonware“. Also Ware, die selbst an die kleinen Händler nur kartonweise geliefert wird. „Deutschlands Weg in den Untergang“, mit Stimmen von Hitler, Göring und den anderen Verführern, schlug nicht so ein. Der Jugend sagt das Gebell nichts, und die Alten haben es ja selbst am Volksempfänger erlebt. Um eine wirkliche Kostbarkeit ist die Nachfrage groß, nämlich um die einzige Schallplatte der Greta Garbo mit Szenen aus ihren Filmen.

DEM GEMÜT TRAGEN FAST ALLE großen Plattenfirmen Rechnung. „Jugend und Mittelalter verlangen“, sagt Frau Maria C, die Inhaberin einer Plattenhandlung, „Blasmusik, so etwa die Lustigen Ober-krainer, deren volkstümliche Arrangements in viele tausend bürgerliehe Heime wanderten.“ Für die alten Kameraden aus den beiden Weltkriegen gibt es Landserlieder: „Wovon kann der Landser denn schon träumen?“ — „Ist das Lied vom Edelweiß auch drauf?“, fragt ein etwa 45jähriger Mann. Er war damals im Kaukasus gewesen und möchte dieses Lied heute als Zivilist hören. Marschmusik ist ein fixer Posten beim Angebot. Altösterreichische Weisen, vom „Deutschmeister-Herrmann“ oder von den Bundes-heerkapellen dargeboten, hört man gerne. Auch die Märsche anderer Nationen gibt es in reicher Auswahl, wie etwa eine „NATO-Platte“. Sogar auf Napoleon kann man zurückgreifen („Marche de la Garde Consulaire ä Marengo“) oder zum berühmten „It's a long way to Tipperary, das man an der Westfront 1914—1918 sang. Natürlich ist der „Herr Karl“ nach wie vor gefragt, ebenso Georg-Kreisler-Chansons. Kurz, wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, sagen die Produzenten und auch die Händler. Darum gibt es Wühltische wie in den Kaufhäusern. Dabei wird der Appetit größer, vor allem nach den Schlagern. Während die Platte mit ernster Musik und Literatur nur eine Konserve des aufgeführten Werkes ist, ist der Schlager wirklich plattengebunden.

Ohne die Schallplatte wäre der Schlager kein Schlager, meinte Werner Richard Heymann einmal. Und so wird es wohl bleiben. Aber davon hatte Edison ja keine blasse Ahnung ...

„NEIN, DANKE!“, SAGTE DIE 18jährige Elfriede P. auf die Frage der Verkäuferin, ob sie noch einen Wunsch habe. Sie hatte eben drei Langspielplatten in einem Stadtge-chäft erworben, nahm den Rest des Geldes in Empfang und ging mit der „Beute“ weg: Bill Ramsey, Fischer-Dieskau und die Rolling Stones mit einer ihrer letzten Aufnahmen. Also gemischte Kost. Elfriede hätte aber, wäre sie ganz up to date gewesen, verlangen müssen: das „Oscar Peterson Trio with Clark Terry“, zwei Jazz-Köche von Super-format, die auf großer Flamme ein Swing-Festessen für Gourmets bereiten, wie es in der Ankündigung heiißt. „Aber, sie werden staunen“, sagt Helga S., die Verkäuferin, „gemischte Kost ist am beliebtesten. Man will womöglich von jedem etwas heimtragen.“ Das dürfte nicht nur in Wien so sein. Es passiert zur gleichen Stunde in tausenden Schallplattengeschäften der Alten und Neuen Welt.

Davon hätte Thomas Alva Edison an jenem Sommernachmittag des Jahres 1877, als er seine erste Sprechmaschine, schlicht Phonogramm genannt, vor Zeugen vorführte, nicht zu träumen gewagt. Er konnte ja nicht ahnen, daß das Gebilde aus Wachs einmal eines der unentbehrlichsten Requisiten im Wohlstands-Zoo sein würde, edne Großmacht im Grabenkrieg des Kulturkonsums. Damals gab es aber noch keine* Platte; sie war erst ein Produkt späterer Jahre. Edison dachte zuerst daran, die Sprechwalze in den Dienst der Völkerverständigung zu stellen, empfahl die Schallplatte als Hilfsmittel zum Sprachunterricht. Man kennt ja die großformatigen Anzeigen „Learn English by re-cords“.

IN DER TAT, IN DER ERSTEN Zeit dienten die Platten zur Aufnahme der königlichen und kaiserlichen Stimmen. So ist Kaiser Franz Josephs leicht wienerisches Organ ebenso erhalten wie Kaiser Wilhelms II. forscher Kasinoton. Beide Platten sind ausgesprochene Raritäten. Es gibt aber auch Platten von Kainz und Moissi, von Hindenburg und Clemenceau. Sie sind akustische Dokumente. 1926 setzte sich die elektrische Aufnahme durch. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Langspielplatte auf den Markt. Soviel zur Entwicklung.

150 S bekommt die 16jährige Schülerin Anni M. als monatliches Taschengeld. („Ich soll damit auskommen, meint Mutti!“) Davon kauft sie sich die diversen Schulsachen, aber auch Schallplatten und Kosmetika. Sie gehört somit zu der Wirtschaft liebsten Kindern. Von 100 verkauften Platten sind 88 Schlagerplatten. Man rechne nun aus, was es heißt, wenn in den USA Jahr um Jahr 500 Millionen Dollar (=12,5 Milliarden S) für Schallplatten ausgegeben werden! In der Bundesrepublik wurden 1960 für rd. 67 Mülionen DM Platten gekauft (1949 waren es „nur“ 6 Millionen DM). Über die Hälfte des Käuferkontingents setzt sich in beiden Ländern aus Teenagern zusammen; in England, Schweden und Frankreich ist es ähnlich. Was Wunder, daß die Schlagersänger zu Millionären werden. Ein Beispiel: „I'm dreaming of a white Christmas“, ein Lied, das eine Gesamtauflage von 23 Millionen Platten erlebte. Der US-Spitzenstar Frank Sinatra verdient 42,3 Millionen S im Jahr, seine Spielsalons allerdings eingeschlossen; Catärina Valente hat ein jährliches Fixum von drei Millionen S bei der Teldec. Angesichts der Produktionskosten (Schlagerproduktion etwa 150.000 S, Produktion einer Symphonie etwa 550.000 S) begreift man leicht, weshalb die Schlagerplatte an der Spitze steht.

1956 erlitt die Schlagerkomposition einen Rückschlag, was auf die Entstehung des Rock 'n' Roll zurückzuführen war. Die Plattenindustrie hat das mittlerweile aufgeholt, nicht zuletzt dank der Langspielplatte, die es z. B. möglich macht, eine Wagner-Oper auf nur vier Platten zu bannen. Zudem hat sich das Angebot enorm vermehrt. Es gibt praktisch alles auf Schallplatten: Dokumentation, Kabarett, Theater, Rezitation und natürlich Musik, Musik, Musik.

„BITTE, ICH MÖCHT' GERNE SOLCHE Schlager aus den zwanziger Jahren“, sagt der 17jährige Erich L., Praktikant in der Textil-branohe. Sein Wunsch ist Symptom.Der Drang zum Vorväterhausrat paart sich mit dem Drang zur alten Welle von gestern und vorgestern. Zumeist sind es 17-cm-„Single“-Platten, auf denen „O Donna Clara“, „Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen“, „Das gibt's nur einmal“ und „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“ drauf ist. Die Platten von gestern dagegen heißen „Roter Mohn“ mit Rositta Serrano, „Ich bin heute ja so verliebt“ mit Willi Forst oder „You are my sunshine“. Im allgemeinen ist ein deutlicher Zug nach oben zu beobachten. Die Schlagerfreunde von gestern wenden sich der gehobenen Schlager- und Operettenmusik zu. Die Operettenfreunde wagen sich an den Opernquerschnitt heran, wogegen die letzteren zu den Gesamtaufnahmen bzw. zur klassischen Instrumentalmusik tendieren. Beweise: Die Platten Grace Brumbys gehen reißend, weniger die der Callas. Aber das ist nur relativ gesehen.

ÜBER EINEN NICHT minder deutlichen Hang zum Ungewöhnlichen berichtet eine deutsche Plattenfirma. Das von Marlene Dietrich zugunsten der Unicef-Kinderhilfe kreierte Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“, erwies sich als „Kartonware“. Also Ware, die selbst an die kleinen Händler nur kartonweise geliefert wird. „Deutschlands Weg in den Untergang“, mit Stimmen von Hitler, Göring und den anderen Verführern, schlug nicht so ein. Der Jugend sagt das Gebell nichts, und die Alten haben es ja selbst am Volksempfänger erlebt. Um eine wirkliche Kostbarkeit ist die Nachfrage groß, nämlich um die einzige Schallplatte der Greta Garbo mit Szenen aus ihren Filmen.

DEM GEMÜT TRAGEN FAST ALLE großen Plattenfirmen Rechnung. „Jugend und Mittelalter verlangen“, sagt Frau Maria C, die Inhaberin einer Plattenhandlung, „Blasmusik, so etwa die Lustigen Ober-krainer, deren volkstümliche Arrangements in viele tausend bürgerliehe Heime wanderten.“ Für die alten Kameraden aus den beiden Weltkriegen gibt es Landserlieder: „Wovon kann der Landser denn schon träumen?“ — „Ist das Lied vom Edelweiß auch drauf?“, fragt ein etwa 45jähriger Mann. Er war damals im Kaukasus gewesen und möchte dieses Lied heute als Zivilist hören. Marschmusik ist ein fixer Posten beim Angebot. Altösterreichische Weisen, vom „Deutschmeister-Herrmann“ oder von den Bundes-heerkapellen dargeboten, hört man gerne. Auch die Märsche anderer Nationen gibt es in reicher Auswahl, wie etwa eine „NATO-Platte“. Sogar auf Napoleon kann man zurückgreifen („Marche de la Garde Consulaire ä Marengo“) oder zum berühmten „It's a long way to Tipperary, das man an der Westfront 1914—1918 sang. Natürlich ist der „Herr Karl“ nach wie vor gefragt, ebenso Georg-Kreisler-Chansons. Kurz, wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, sagen die Produzenten und auch die Händler. Darum gibt es Wühltische wie in den Kaufhäusern. Dabei wird der Appetit größer, vor allem nach den Schlagern. Während die Platte mit ernster Musik und Literatur nur eine Konserve des aufgeführten Werkes ist, ist der Schlager wirklich plattengebunden.

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