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Ein Adoptivkind Rußlands

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STALIN. Von Isaac Deutscher. Eine politische Biographie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1962. Paperbackausgabe, 64 8 Seiten. Preis 14.80 DM.

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STALIN. Von Isaac Deutscher. Eine politische Biographie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1962. Paperbackausgabe, 64 8 Seiten. Preis 14.80 DM.

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Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Natur der Revolution. Die Geschichte weist uns auf diesen Tatbestand hin. Auch die russische im zwanzigsten lahrhundert. Offenkundig ist eine Gesetzlichkeit im Ablauf des revolutionären Prozesses wirksam, gefiltert durch die jeweiligen sachlichen und humanen Bedingungen.

Das vorliegende Buch ist wohl eine Biographie Stalins, endend mit dem Beginn der eigentlichen „Stalin-Epoche“, zuvorderst aber ist das Werk eine Geschichte der russischen Revolution und des Vollzuges revolutionärer Ideen auf der Eben der Verwaltung wie der Gesellschaft.

Es war die Eigenart der russischen Revolution, daß sie von den Theorien des Marxismus bestimmt war und im zwanzigsten Jahrhundert bei einem Volk und in einer Gesellschaft ansetzte, die weithin noch unter den Bedingungen der frühen Neuzeit lebt.

Stalin aber war der große Exekutor der Gedanken eines Karl Marx, er war keineswegs der Theoretiker, als den ihn devote Hofgeschichtsschreiber des Kremls hinstellten, er war aber auch nic^t der Nur-Despot. Deutscher, selbst Marxist und, in einem revisionistischen Sinn, Leninist, ist sehr und mit Erfolg bemüht, den Menschen Stalin und den Politiker, das Vollzugsorgan von Ideen und von geschichtlichen Notwendigkeiten (im Sinn des Marxismus), in einer kühlen, distanzierten Weise darzustellen.

Für Deutsche ist Stalin wohl ein Despot, aber nur so weit, als sich seine Despotie gegen Marxisten richtet; er ist inhuman, soweit es Marxisten anlangt. Was nach 1917 in Rußland sonst geschah, in der Welt außerhalb des Marxismus und gerichtet gegen die Repräsentanten der alten Welt, wird nicht erwähnt.

Stalin (Dsugaschwili-Koba) lebte und dachte aus den Bestimmungsgründen eines Jugendtraumes. Sohn von Leibeigenen, ist für ihn der Marxismus nicht das Bemühen, anders als die anderen zu sein, ist nicht ein intellektueller Gedankensport. Stalin war Marxist als Folge seiner sozialen Stellung, wenn er auch seinen Marxismus lange Zeit mit einem bedingten georgischen Nationalismus abzustimmen vermochte. Man kann aber vermuten, ausgehend von der Schilderung von Deutscher, daß der Stalinsche Marxismus in einem nicht geringen Umfang durch die Erlebnisse im theologischen Seminar in Tiflis geistig unterbaut wurde, durch die ekelhafte, staatskirchlich fixierte Atmosphäre des Seminarmilieus, in dem sich die Degeneration der russischen Orthodoxie andeutete.

Der junge Stalin war vom Stalin der Mannesjahre durchaus unterschieden. In der Jugend kleinbürgerlich gesinnt, Nationalist, ein Vertreter des Selbstbestimmungsrechtes (die Entlassung der Finnen aus dem russischen Staatsverband wurde offiziell von ihm proklamiert), wurde er später Internationalist, ein „Adoptivkind“ Rußlands (dessen Sprache er offenkundig nie voll beherrschte).

Das Buch ist, mit umfangreichen Materialhinweisen belegt, die Darstellung des Versuches (vorläufig), den Marxismus (Sozialismus) in einem Land zu verwirkliehen. Zugleich aber wird das Phänomen „Stalin“ analysiert, ein klassisches Beispiel für die Transformation von Interessen in Ideen, die dann, autonom werdend, auf die Interessenlagen zurückwirken. Zudem ist das Buch eine in stolzer Einseitigkeit geschriebene Geschichte Rußlands von der Jahrhundertwende bis zum Ende des zweiten Weltkrieges.

Sowenig dies an der Grundtendeni und an der Qualität des Buches zu ändern vermag, seien einige Anmerkungen und Ausstellungen gestattet: Auf Seite 71 soll es Kautsky und nicht Kautski heißen. Auf der gleichen Seite, im Zusammenhang mit dem Hinweis auf den Blanquismus, ist ein grammatikalischer Fehler feststellbar. Ein „Kleinkrieg der Guerillas“ ist wohl nach der heutigen Bedeutung von „Guerilla“ eine nicht ganz zutreffende Formulierung (S 103). Auf Seite 138 wurde die Mehrwerttheorie mit der Grenznutzenlehr verwechselt. Es gibt kein Fusionieren in... (S. 158). Der Ausdruck „Banden“, wenn von Gegenrevolutionären die Rede ist, vermag kein markantes Zeugnis für die Objektivität des Buches zu sein (S. 167). In der zweitvorletzten Zeile auf Seite 191 ist „sie“ an Stelle von „Sie“ zu setzen. Auf Seite 338 wird ein Zitat Bucharins wiedergegeben, das im gleichen Wortlaut auf Seite 337 steht.

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