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Ein amerikanischer Alptraum

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Vier Millionen illegale Immigranten in den USA: Abschieben, verfolgen, integrieren? Antworten oder Lösungsvorschläge gibt es keine, vorerst, dafür aber einen Roman. Ein Opus von 390 Seiten, das alle Stücke spielt. Das heißt, das keine Chance auf Katastrophen ausläßt. Die Rede ist von •„America” (im Originaltitel: The Tortilla Curtain) des amerikanischen Erfolgsautors T. Coraghessan Royle.

Eines gleich vorweg: es ist ein wichtiges Ruch, vielleicht sogar eines der wichtigsten Rücher, die aus den Staaten den Weg über den großen Teich in die Bestsellerlisten der deutschsprachigen Feuilletons geschafft haben.

Es ist ein moralisches Ruch und braucht dennoch nicht den Zeigefinger zu erheben. Die amerikanische Realität bietet offensichtlich genug Stoff für einen anspruchsvollen Roman.,

Royle läßt zwei Welten aufeinanderprallen: Die eine ist jene des De-lany Mossbacher, eines gut situierten amerikanischen Rürgers. Er lebt mit Weib und Kind, Hund und Katz in einem Haus in den Hügeln um Los Angeles, schreibt täglich seine Kolumnen für Naturzeitschriften, macht seine Wanderungen, sorgt für den Haushalt und ist ein Liberaler. Finanzielle Sorgen hat er keine, ist seine Frau Kyra doch eine erfolgreiche Immobilienmaklerin.

Doch was muß geschehen, daß jemand, der political correctness gerne auf die Spitze treibt, zum rasenden Rassisten wird? Ein Autounfall. De-lany lernt sein Pendant kennen, als er es überfährt.

Cändido, der Protagonist der anderen Welt, der Unterprivilegierte, ein mexikanischer Wanderarbeiter, der mit seiner Frau im Canyon campt, findet sich mit den 20 Dollar Schmerzensgeld ab und ergreift die Flucht. Die Einwanderungsbehörde sollte nichts von seiner Existenz erfahren.

Royle spielt in seinem Roman diese zwei Welten gegeneinander aus, indem' er sie parallel zueinander darstellt, in Krisenfällen jedoch stets zusammenführt, das heißt, wenn die größt mögliche Katastrophe ausbricht.

Royles Helden befinden sich im ständigen Kampf: sei es mit der Natur, wenn die Hunde von Delanys Frau Kyra in ihrem Garten von eindringenden Kojo-ten zerrissen werden, sei es mit anderen Nachbarn, wenn es darum geht, ein Tor | oder eine Schutzmau-P 1 er um die Siedlung der Wohlständler zu ' bauen.

Kampf herrscht auch in der anderen Welt, in der Welt der Ufiterpri vi legi erten, der illegalen Einwanderer. Cändido und seine Frau Americ, die ein Kind erwartet, das sie in der Wildnis zur AVeit bringt, sind aus Mexiko geflohen. Nicht nur weil sie sich ein besseres Leben, Arbeit erhofften, ein schönes Heim, ein Auto leisten wollten. Ihre Reweggründe sind tiefgründiger. America ist die Schwester von Candidus erster Frau, die den Wanderarbeiter, der neun Monate im Jahr nicht zu Hause war, verlassen hat. Als Cändido America schwängert, sieht das Paar keine andere Möglichkeit, als aus dem mexikanischen Dorf zu fliehen. Indes das Land der Hoffnungen erweist sich als rauher als vielleicht die Ächtung einer mexikanischen Provinzstadt.

Der amerikanische Traum wird für die beiden entgegen aller Hoffnungen zum Alptraum. Als illegale Einwanderer bringen sie sich mehr schlecht als recht mit spärlicher unterbezahlter Schwarzarbeit durch, vergeblich hoffen sie auf eine Wohnung. Ernähren können sie sich nur schlecht, mitunter holen sie sich zuweilen sogar das Hundefutter aus den umliegenden Gärten. Der Zugang zur Neuen Welt scheint ihnen verwehrt.

Ein Erdrutsch am Ende des Romans läßt alles offen, sie retten sich auf das Dach des Postamtes und mit ihnen Delany, nunmehr Candidos Jäger.

Royle löste in Amerika mit seinem Roman heftige Kontroversen aus: die Liberalen warfen ihm vor, daß ein Amerikaner unmöglich aus der Sicht eines Mexikaners schreiben könne, die Konservativen dagegen machten ihm zum Vorwurf, daß er mit den Illegalen viel zu milde verfahren würde.

Genau das ist aber die Stärke dieses Autors. Er differenziert, ohne eine banale Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben. So sind es zum Reispiel Mexikaner, also andere Illegale, die America vergewaltigen, es sind Illegale, die einander bekämpfen, die das junge Paar um die paar Dollar bringen, die sie sich hart verdient haben.

Es ist aber auch kein Zufall, daß ausgerechnet Delany der linke Naturfreund die scharfe Rechtskurve nimmt, nachdem ihm sein Auto gestohlen worden ist und der Canyon von mexikanischen Campern in Rrand gesteckt wird, wie er richtig vermutet. Nur, er verdächtigt die falschen. Als Cändido zum Thanksgi-ving von einem Amerikaner einen 'I'ruthahn geschenkt bekommt, grillt er ihn für seine Frau. Das Feuer bricht aus. y

Rei den Vorbereitungen zur Evakuierung der Siedlung Delanys wird ihm eines klar: „Es herrschte Krieg, kein Zweifel.”

Royle ist mit seinem Roman eine Psychologie des Rassismus, des Klassenkampfs gelungen, die sich in den feinen Zwischentönen als Entlarvung von Mechanismen darstellt, die heute als Selbstverständlichkeiten kaum mehr wahrgenommen werden können.

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