Ein Antipode der alten Zeit

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Wenn sich Karl Kraus aus der Redaktion Die Fackel auf den Wiener Zentralfriedhof bemüht und in der Neuen Freien Presse Feuilletonchef Raoul Auernheimer unterm Strich über drei Seiten einen Nachruf schreibt, dann ist ein Großer verstorben.

Die Illustrierte Wiener Bilder meldet am 12. Jänner: "Der Wiener Dichter Peter Altenberg ist schwer erkrankt. Sein Zustand ist besorgniserregend." Fürwahr. Als die Wochenzeitung erscheint, ist Peter Altenberg schon einen Tag begraben. Bekannte alarmieren am Dreikönigstag den Bruder des Dichters und Wiener Bohemiens. Er findet ihn im Zimmer 51 des Grabenhotels in der Dorotheergasse im Bett liegend. Altenberg hat offensichtlich hohes Fieber. Sein Bruder veranlasst seine Einlieferung ins Allgemeine Krankenhaus. Peter Altenberg verzichtet seit Jahren auf eine feste Bleibe und logiert in wechselnden Hotels. Seine Meldezettel spannen ein geografisches Netz über Wiens Innenstadt-Bleiben. Im neuen Graben-Hotel hat der kauzige Poet seit 1913 eine Heimat gefunden und sie mehrfach zufrieden beschrieben: "Mein einfenstriges Kabinett im fünften Stock ist mein 'Nest'. Halm für Halm zusammengesucht seit zwanzig Jahren. Kurz alles meinem Sein, meinem Geschmacke, meinen inneren Erlebnissen entsprechend. Ein Nest! Wenn ich denke, wer dieses geliebte Kabinett einmal in Bausch und Bogen erben wird, da freut mich wirklich das ganze Sterben nicht."

Klassischer Studienabbrecher

Der sechzigjährige Altenberg wird aus seinem "Nest" in die III. Medizinische Klinik von Professor Franz Chwostek "bereits in bedenklichem Zustand" eingeliefert. Der Internist gilt als Koryphäe. Immerhin hat ihn sogar Alma Mahler-Werfel zur Behandlung ihres Komponistengatten Gustav Mahler hinzugezogen. Der deutschnationale Burschenschafter Chwostek kann Mahler anno 1911 nicht helfen, und auch bei Peter Altenberg versagt die damalige Medizin. Die Erkrankung wird "von kurzer Dauer sein" prophezeit die Illustrierte Kronen Zeitung, und sie schätzt die Lage realistisch ein. An der Klinik vermuteten die Ärzte zunächst eine "Bromvergiftung", die nach längerer Einnahme eines damals beliebten sedierenden Heilmittels auftreten konnte, ehe sie eine beiderseitige Lungenentzündung diagnostizierten.

Ohne Antibiotika hat der Fiebernde keine Chance. Altenberg ist nur noch für wenige Augenblicke bei klarem Bewusstsein. "Nachmittags weilten sein Bruder und Professor Hammerschlag an seinem Krankenbett, die er aber kaum mehr erkannte. In der Nacht trat tiefe Bewußtlosigkeit ein, aus der Peter Altenberg nicht mehr erwachte. Einige Minuten vor 11 Uhr vormittags mußte die behandelnde Ärztin Frau Doktor Weiß den eingetretenen Tod feststellen. Altenberg hat ein Alter von 60 Jahren erreicht."

Dass eine Ärztin an der Klinik Chwostek tätig war, ist das Erstaunliche an der Zeitungsmeldung. Der Internist gilt als entschiedener Gegner des Frauenstudiums. Er lässt weibliche Studenten gewaltsam aus seinen Lehrveranstaltungen vertreiben. Nach dem Weltkrieg hat sich Chwostek der Bewegung des deutschen Generals Ludendorff angeschlossen und bekennt sich offen zu seinem Antisemitismus. Die III. Medizinische Klinik wird schon bald als "Hakenkreuzlerklinik" bekannt. Ausgerechnet dort stirbt der als Richard Engländer geborene Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns.

In Wien lernte der Kaufmannssohn am Akademischen Gymnasium und legte dort auch die Reifeprüfung ab. Danach inskribierte der Maturant an der Universität Wien, wo er, freilich -zum Missvergnügen seines Vaters -eher unregelmäßig, juridische und später auch medizinische Vorlesungen besuchte. Altenberg wurde zum klassischen Studienabbrecher, versuchte in Stuttgart eine Lehre als Buchhändler abzuschließen, eher er in Wien seine wahre Profession erkannte.

Altenberg wird zum Dauergast der Innenstadt-Kaffeehäuser und entzückt junge, sehr junge, eigentlich viel zu junge Damen mit seiner exzentrischen Lebensführung. Diese -mit Konsequenz betrieben -macht in bald zu einer legendären Figur, nicht von allen geliebt. Die Kronen Zeitung beschreibt den Aphoristiker aphoristisch so: "Als es in Wien noch ein Nachtleben gab, war Peter Altenberg einer der standhaftesten Bekenner des nächtlichen Wien. Er war in allen Cafés, Bars und Tanzlokalen zu Hause, saß dort mit seinen Freunden, denen er tiefe und groteske Weisheiten über Leben und Liebe, Welt und Weib mit seiner zitternd beschwörenden Stimme zurief."

So wurde Peter Altenberg zu einer lokalen Weltberühmtheit. Nach seiner Lieblingsbeschäftigung gefragt, antwortete er: "Den Sommer in Gmunden verbringen und den See anstarren vom Morgen bis zum Abend." Und als seine Adresse bezeichnete er:"Wien, 1. Bezirk, Herrengasse, Café Central."

Der Dichter und Feuilletonist Raoul Auernheimer, zur damaligen Zeit der größte seines Faches, widmet dem Prototypen des Kaffeehausliteraten einen augenzwinkernden, aber liebevollen Nachruf: "In einer Zeit allgemeinster Verarmung, die nachgerade auch auf das geistige Gebiet überzugreifen beginnt, wird es nicht allzu vielen aufgefallen sein, daß Wien seit ein paar Tagen um einen Dichter und eine wunderliche Figur ärmer geworden ist. Dennoch werden die Wiener, und nicht nur jene begeisterten Jünger eines neuen Kaffeehausglaubens, die in Peter Altenberg den Dichter zu sehen gewohnt waren, diese stadtbekannte Gestalt nicht ohne leise Wehmut aus unserem Stadtbild verschwinden sehen. Es gibt in der Literatur auch so etwas wie ein Bürgerrecht, das, wie jedes andere, durch längere Ansässigkeit erworben wird. Peter Altenberg besaß es, trotz seiner Unbürgerlichkeit, in den letzten Jahren. Er schrieb und schrieb, er veröffentlichte das Geschriebene, und während die einen über jeden seiner gesperrt gedruckten Kraftsätze, seine winzigen Skizzen und Zweiminutenromane in Entzücken gerieten, hatte er es bei den anderen, der kompakten Mehrzahl immerhin so weit gebracht, dass sie ihn als einen sonderbaren Heiligen gewähren ließen und lachend zusahen, wenn er, bald bitterernst, bald mit dem eigenen Galgenhumor, in Wort und Schrift seine geistreichen Purzelbäume schlug. Man hatte sich daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit ein neues Buch von ihm, das immer dasselbe war, in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausliegen zu sehen."

Landkarte der Jahrhundertwende

Egon Friedell zeichnet in der schöngeistigen Monatszeitung Die moderne Welt die Welt von Peter Altenberg: "Er hat in seinen kleinen, hingetupften Bildchen eine Art Topographie der heutigen Gesellschaft entworfen, an der man sich später einmal übersichtlicher und genauer orientieren wird als an den dickleibigen Zeitromanen. Er zeichnete gewissermaßen eine Landkarte der Seelenverfassung um die Jahrhundertwende. Aus allen diesen Pamphleten, die er gegen die bürgerliche Kultur und Moral schleuderte, erwächst ihm, weil er ein Dichter ist, eine rührende Verklärung eben dieser Welt, die er vernichten wollte. Dichter können eben nicht polemisieren, unter ihrer Berührung wird, oft ganz gegen ihren Willen, alles schöner, als es vorher gewesen ist."

Karl Kraus, wohl auf der anderen Seite des literarischen Spektrums, hält am Grabe Altenbergs die Totenrede. Sie ist zwar voll Pathos, geistreich natürlich, aber doch deutlich weniger augenzwinkernd. "Nun, da Du in das Reich aufgestiegen bist, wohin Dir kein Verkennen folgt, nicht der Mißgunst und nicht der Gefolgschaft, nun hast Du uns zu Bettlern gemacht! [] Nun ist der Augenblick da und nun muß es aller Welt gesagt werden: Daß Du, Peter Altenberg, einer der größten Dichter warst, die ihrer Zeit nur geliehen sind." Und Karl Kraus bedient sich als Schlusswort eines Satzes aus Goethes Drama "Götz von Berlichingen":"Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das Dich von sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die Dich verkennt!"

Altenberg hätte wahrscheinlich zu Lebzeiten dieses Kraus'sche Pathos mit einem Zucken seines tiefhängenden Schnauzbartes beantwortet. Im Tod beginnt seine Vereinnahmung. Die sozialistische Arbeiter-Zeitung betont, dass die Stadtverwaltung dem Dichter ein Ehrengrab -und zwar "an der Friedhofmauer" auf Antrag der sozialdemokratischen Mitglieder -genehmigt habe. Begründet wurde diese posthume Ehre so: "Dem verstorbenen deutschösterreichischen Dichter Peter Altenberg, dessen Werke zu einem wertvollen Besitz der gesamten deutschen Literatur gehören, dessen Werke in alle Kultursprachen übersetzt wurden, der ein Wiener Kind ist und die Stadt Wien wiederholt dichterisch wirkungsvoll verherrlicht hat, ist von der Gemeinde Wien ein Ehrengrab zu gewähren." Dem Antrag stimmen dann alle Fraktionen zu.

Äußere Erscheinung als Programm

Dabei wird der Dichter mit einem -für heutige Moralvorstellungen -eher bedenklichen Hang zu blutjungen Mädchen nicht von allen Bürgern geschätzt. Das ist wohl Schicksal von Bohemiens, die sich auch äußerlich von den braven Bürgern der arm gewordenen Kaiserstadt abheben wollen.

Raoul Auernheimer beschreibt Peter Altenberg mit gelassener Ironie: "Er hatte das bei einem Philosophen (der er im Grunde gewesen ist) etwas lächerliche Bedürfnis, seine innere Ansicht von den Dingen auch äußerlich, und durch das Gleichgültigste, die Kleidung zur Schau zu stellen. Er ging nacktfüßig auf Sandalen einher, im Winter in einem flatternden Havelock, im Sommer in einer Art verschlossener Radfahrdress, mit sportmäßig geknüpfter Krawatte. Die Kappe war tief in die Stirn gedrückt, der grimmige Schnauzbart hing wüst herunter, von einem fingerbreiten, schwarzen Zwickerband malerisch umflattert, und in der Hand hielt er einen dicken, beulenartigen Spazierstock, den er in der Mitte umklammerte und im Gehen rabiat hin und her schwang. Alles an dieser Silhouette: der waagrecht gehaltene Spazierstock, das vorgeschobene Gesicht, seine Art, die Knie beim Schreiten absichtlich etwas hochzuziehen, erinnerte irgendwie an die traditionelle Körperhaltung und Gangart des Stutzers von 1890, des sogenannten Gigerls, war aber anderseits durch das offensichtliche Bestreben bestimmt, an der einmal gewählten Maske eigensinnig festzuhalten. Man sah dem Manne, der sich so trug, deutlich an, daß er aus seiner Erscheinung ein Programm machte. So hat Peter Altenberg als der letzte Bohemien gelebt und so ist er gestorben." So stirbt - kaum hat die neue Zeit begonnen -ein Antipode der alten Zeit, vor der Zeit. Das Grabkreuz am Zentralfriedhof gestaltete Adolf Loos.

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