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Ein Beispiel

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Wer hier bei uns, ganz weit draußen auf dem nordenglischen Moor, zur Messe gehen will, muß zeitlich früh seine Wanderung beginnen.

Kein Glockengeläute begleitet ihn, weder der eindringliche Klang der heimatlichen Dorfkirche, noch, wenn er einen Augenblick innehält, um in die Ferne zu lauschen, halbverwehte Töne aus benachbarten Kirchtürmen, wie die Kirchenbesucher zu Hause sie hören.

Das Moor, das noch grau aussieht, regt sich erst schwach. Doch im gleichen Maß, wie der Himmel darüber nicht mehr leise getönt erscheint wie das Innere einer Muschel, sondern immer blauer und strahlender, hebt es unter den Ginsterbüschen und den unabsehbar großen Polstern von Heidekraut, wo die Vögel schlafen, laut und lauter zu gurren, zu pfeifen und zu trillern an.

Statt anderer Kirchgänger, Nachbarn und Freunden, gesellt sich einem ein seltsamer Wandervogel — Brachvogel nach Brehm — zu, dessen angstvolle Rufe etwas Menschliches haben, so daß er wie eine in graues Gefieder gebannte arme Seele in Not erscheint.

In dem kleinen Marktflecken, irgendwo hinter der schönen Stadt York, steht die katholische Kirche mitsamt dem Pfarrhof auf einer Mauer und bildet so mitten im Ort eine kleine, stille Insel, umwoben von dem intimen Zauber einer englischen Heimstätte, nur daß hier nicht eine einzige Hausfrau der Pflege der Kirche obliegt, sondern alle Frauen der Gemeinde für Sauberkeit und Glanz im Innern und die schönen grünen Pflanzen sorgen, die das kleine Gotteshaus rings umgeben, und daß der Grundbesitzer, der einst die Gebäude aufführte, dabei nicht allein an Frau und Kinder, sondern an eine weit größere Familie gedacht hat. Vor Zeiten, während der großen Hungersnot und Katholikenverfolgung in Irland, haben hier viele Flüchtlinge Schutz gefunden, und der Pfarrhof ist bis zum heutigen Tag ein Hort der Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft geblieben.

Einer der Pfarrherren, der vor Jahren, in einer Zeit, da man hier noch wenig duldsam war, in dem altertümlichen Haus lebte, Father Saxon, war im ganzen Land auch unter Methodisten und Anglikanern so beliebt, daß anläßlich seines Begräbnisses Menschen aller Bekenntnisse von weit und breit zusammenströmten und trauernd hinter seinem Sarg herzogen. Er hatte sich die Liebe der Leute vor allem durch die Uner-schrockenheit erworben, mit der er zur Zeit einer Epidemie die Isolierspitäler besuchte, und durch die Güte, mit der er ausnahmslos allen Kranken Trost gespendet, und ihren Angehörigen Botschaften überbracht hatte.

Der Pfarrer, der jetzt amtiert, hat zugleich mit den Möbeln seiner Vorgänger auch eine Tradition selbstloser Freundlichkeit übernommen.

In dem Studierzimmer, das heute genau so aussieht wie vor Jahrzehnten — denn die F.inrichtungsgegenstände sind nicht wie bei uns Privatbesitz der Bewohner —, empfing der Geistliche so manchen Flüchtling aus Mitteleuropa und noch von weiter her, der während der letzten Jahre bei ihm vorsprach, um ihm sein Leid zu klagen.

Er hörte zu, wunderte sich, tröstete, munterte die Fremden auf, Ihn wieder zu besuchen, lud sie ein, mit ihm Tee zu trinken, fragte sie leise unter der Tür beim Ab-sdiied: „Brauchen Sie Geld? Sind Sie sicher, daß Sie Weihnachten schön feiern können — ich meine wirklich schön, mit Kuchen und einem Braten? Es wäre mir nämlich ein Vergnügen ...“

Später wurden Gefangenenzüge durch die Hauptstraße geführt. Manche der Leute sangen so laut sie konnten Hitler-Lieder, aber niemand aditete darauf, weder ihre Wachen noch die Passanten. Sie waren der deutschen Sprache nidit mächtig, aber selbst wenn sie all die Herausforderungen verstanden hätten, wären sie gleidimütig weitergegangen im gutmütig überlegenen Gedanken: Laßt sie in Ruh, sie sind geschlagen genug.

Der Pfarrer begann nun deutsch zu lernen, unentwegt, und ließ sich von seinen deutschsprechenden Freunden Aussprache und Grammatik ausbessern. Er lernte unglaublich sdinell, denn es lag ihm daran, wie er sagte, den Kranken im Gefangenenspital mit den Tröstungen der Religion zu Hilfe zu kommen.

„Sic werden Enttäuschungen erleben!“ sagte man ihm, aber er glaubte es nicht.

Seine ersten Besuche im Flügel des Spitals, wo die Gefangenen einquartiert waren, verliefen genau so, wie Kenner der Situation es prophezeit hatten. Line alte Krankenpflegerin erzählte, der gute Herr sei von Bett zu Bett gegangen, und auf seine milde Frage: „Wollen Sie Beichte ablegen?“ sei er kurz abgefertigt worden: „Ich gehöre zur SS“ oder mit einem halb gemurmelten: „Danke, nein.“

Später sagte dieselbe Krankensdiwester: „Er war wieder und wieder da, und anläßlich seines dritten Besuches, denken Sie, habe ich ihn in einer Fensternische de Ganges stehen gesehen mit einem jungen Soldaten, der eifrig mit ihm flüsterte. „Verraten Sie mich nicht, Schwester“, bat der Bursche nachher ängstlich, „die SS darf's nicht wissen, aber wir anderen sdileichen uns jetzt regelmäßig hinaus auf den Gang, wenn er kommt, und legen ihm geheim unsere deichte ab.“ Seither sind Jahre vergangen.

Und an einem der letzten Sonntage, nachdem die Messe vorüber war und der letzte Ton im Chor verklungen, sind plötzlich zehn deutsche Kriegsgefangene aus den Bänken hervorgetreten, haben Aufstellung im Mittelgang de? Kirchenschiffes genommen und sehr ernst, taktfest und schön drei alte deutsche Kirchenlieder gesungen.

„Das tun sie“, erklärte mir eine-Bekannte, „weil sie vor dem Heimtransport dem Pfarrer und mit ihm der Gemeinde ihren Dank abstatten wollen.“

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