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EIN BRIEF AUS DEUTSCHLAND

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An MAXWELL E. PERKINS

Auf der Wartburg, den 23. Mai 1935

Lieber Max,

ich wollte Dir schon früher schreiben, bin aber überhaupt nicht zum Schreiben gekommen — wenigstens nicht in den letzten zwei bis drei Wochen. Ich weiß nicht, wie mein Status quo in New York ist, aber in Deutschland werde ich geradezu auf Händen getragen. Ich glaube, ich könnte das keine 14 Tage länger aushalten, aber die letzten zwei Wochen waren für mich ein außerordentlicher, wunderbarer, ja märchenhafter Lebensabschnitt, weil ich so etwas noch nie erlebt hatte. Ich bin so froh und dankbar, daß ich es jetzt kennengelernt habe, ich werde es nie vergessen. Man sagt, Lord Byron sei mit 24 Jahren eines Morgens als berühmter Mann aufgewacht. Nun, ich kam mit 34 eines Abends in Berlin an, und am nächsten Morgen stand ich auf und ging zur American Express, und von da an war ich in Berlin — zumindest während der letzten zwei Wochen — ein berühmter Mann. Ich fand Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw. vor von allen möglichen Leuten, darunter von meinem hiesigen Verleger Rowohlt und von Martha Dodd, der Tochter des amerikanischen Botschafters. Zwei Wochen lang habe ich mich nur damit beschäftigt, alle möglichen Leute kennenzulernen, auf Gesellschaften zu gehen, Interviews zu geben und mich von der Associated Press photographieren zu lassen — und in der Botschaft habe ich sozusagen gewohnt. Ich war meist zu den Mahlzeiten dort, und daß ich mein Schlafzimmer anderswo hatte, machte nicht viel aus, weil ich gar keine Zeit zum Schlafen hatte, und da es jetzt in Berlin ohnehin um drei Uhr morgens hell wird und Miß Dodd, ihr Bruder und ich fast die ganze Nacht durch aufblieben und redeten, habe ich das Schlafen fast verlernt. Schließlich wurde es uns ein bißchen viel, und darum haben Miß Dodd, ich und noch zwei andere gestern Berlin den Rücken gekehrt, wir sind den ganzen wundervoll sonnigen Tag über in südwestlicher Richtung durch dieses herrlich schöne, zauberhafte Land gefahren. Wir übernachteten im alten Weimar, und heute bummelten wir durch die Stadt und besichtigten zuerst Goethes Gartenhaus in dem herrlichen grünen Park, die Zimmer, in denen er gelebt und gearbeitet hat, den Sitz, auf dem er beim Schreiben gesessen hat, sein hohes, altes Schreibpult und viele andere Dinge, die er benutzt und mit denen er gelebt hat. und sein Leben und Schaffen wurden zu etwas ganz Nahem und Wirklichem. Dann gingen wiir zu dem schönen alten Stadthaus, in dem er später gewohnt hat und wo alle Zeugnisse seines grenzenlos neugierigen, großen Geistes getreulich erhalten sind: seine Laboratorien und Werkstätten, die große Bibliothek, die Räume, in denen er seine physikalischen, chemischen, elektrischen und optischen Experimente angestellt hat. Dann gingen wir weiter durch die Stadt und besuchten die Gruft, in der Goethe und Schiller Seite an Seite beigesetzt sind, und schließlich nahmen wir schweren Herzens Abschied von dieser wunderschönen alten Stadt, in der — wenigstens für mich — so viel vom Geist des großen Deutschland zu spüren ist, von dem großen, edlen Geist des Idealismus und der Freiheit und Ehrfurcht, den wir alle geliebt haben. Dann fuhren wir weiter durch eine unbeschreiblich liebliche, zauberhafte Landschaft, und heute übernachten wir hier auf der Wartburg, einem sagenumwobenen Berg, der Richard Wagner zu seinem Tannhäuser inspiriert hat. Morgen wollen wir durch die schönen Harzberge nach Berlin zurückfahren, und ich habe jetzt weder genügend Zeit noch Kraft, um Dir zu schildern, wie schön und herrlich und zauberhaft dieser Ausflug war.

Ich erzähle Dir das alles, weil wir beide oft von Deutschland gesprochen haben und auch von dem deutschen Volk, das Dir nicht so sympathisch ist wie mir, und von dem, was hier in den letzten Jahren geschehen ist. Aber ich muß Dir sagen, daß ich nicht begreife, wie jemand, der so herkommt wie ich, dieses Land nicht lieben kann, seine edle gotische Schönheit und seinen poetischen Liebreiz, wie man die Deutschen nicht gern haben kann, dieses sauberste, freundlichste, warmherzigste und redlichste unter allen europäischen Völkern, die ich kenne. Ich schreibe Dir das, weil ich finde, daß man die Großzügigkeit haben muß, diese Tatsachen voll anzuerkennen, aber auch, weil ich hier Dinge gehört und gespürt habe, die Du und ich niemals mitmachen oder vertreten können und die, wenn sie wirklich stimmen — und sowohl meine Intuition als auch mein Vertrauen und mein Glaube an diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, sagen mir, daß sie stimmen müssen —, schlechthin zu verdammen sind.

Ich wäre jetzt gern mit Dir zusammen, um Dir zu erzählen, was ich gesehen und gehört habe, all das wunderbar Schöne und Aufregende und auch die Dinge, die so schwer zu erklären sind, weil man sie als böse empfindet, aber in einem anderen Sinne, als wir es in den wortreichen Auslassungen einer feindlichen Presse und Propaganda lesen, denn dieses Böse ist so merkwürdig unentwirrbar verknüpft mit einer Art wunderbarer Hoffnung, die Millionen Menschen beschwingt und begeistert — Menschen, die, wie gesagt, selber bestimmt nicht böse sind, sondern eines der kindlichsten, freundlichsten und aufgeschlossensten Völker der Erde. Ich werde Dir bestimmt davon erzählen. Eines Tages möchte ich etwas darüber schreiben, aber wenn ich jetzt auch nur das aufschriebe, was ich innerhalb von zwei Wochen gehört und gespürt habe, würde ich vielleicht tiefstes Unglück und Leid über die Menschen bringen, die ich hier kenne und die mir so viel herzliche Gastfreundschaft erwiesen haben. Aber ich komme mehr und mehr zu der Ansicht, daß jeder von uns den Banden und der Beschmutzung von Schuld und Übel, die in der ganzen Welt herrschen, ausgeliefert ist, daß wir keinen anderen anklagen und verdammen können, ohne uns letzten Endes selbst anklagen zu müssen. Wir sind alle miteinander verdammt, wir sind alle gebrandmarkt, und in gewissem Maße sind wir für das, was hier geschehen ist, mitverantwortlich. Es kann auch nicht die kleinste Spur eines Zweifels darüber bestehen, daß diese Nation heute voll ist von Uniformen und vom Tritt marschierender Männer — ich habe es gestern in 100 Städten und Dörfern mit eigenen Augen gesehen, als wir 300 km weit durch dieses friedlichste, lieblichste und anscheinend freundlichste aller Länder fuhren. 1000 Organisationen, unzählige Marschkolonnen von achtjährigen Kindern bis zu fünfzigjährigen Männern, und alle ganz offensichtlich erfüllt von Hoffnung und Begeisterung, von dem inbrünstigen Glauben an eine verhängnisvolle, zerstörerische Sache — und den ganzen Tag schien die Sonne, und die Wiesen so grün, die Wälder so lieblich, die Städtchen so sauber und die Gesichter und Stimmen der Menschen so freundlich wie nirgends sonst — was soll man also dazu sagen?

Ich empfinde einen ganz neuen Stolz auf Amerika, einen neuen Glauben und die Zuversicht, daß unsere große Zukunft noch vor uns liegt, seitdem ich in Berlin bin und einige der hiesigen Amerikaner, vor allem den Botschafter Dodd kennengelernt habe. Dodd ist Historiker, stammt von einer Farm in meiner Heimat North Carolina und hat, bevor er hierherkam, sein Leben lang unterrichtet und Geschichtsforschung betrieben. Er ist wohl das, was man einen Jeffer- son-Demokr.aten nennt, und glaubt an die Gesellschaft freier Menschen und an die Idee der Demokratie, die man seiner Ansicht nach bisher nirgends auf der Erde mit ehrlichem Willen praktisch ausprobiert hat. Ich weiß nicht, ob er damit recht oder unrecht hat…, aber sein Haus in Berlin ist eine furchtlose Freistatt für die Vertreter aller Meinungen, und wer sonst in ständiger Angst leben muß, kann dort ohne Furcht atmen und seine Meinung sagen. Dafür kann ich mich verbürgen, und ich weiß auch, daß der ungekünstelte, trockene, unverblümte Gleichmut, mit dem der Botschafter sich den ganzen Pomp und Glanz, die Auszeichnungen und Marschkolonnen mit ansieht, Deinem Herzen wohltun würde. Du hättest neulich abend, dabei sein müssen, als er nach Hause kam, nachdem er eine zweidreiviertelstundenlange Rede mit angehört hatte, die Hitler vor dieser Strohpuppenversammlung mit dent ironischen Namen „Reichstag” gehalten hatte und die von allen deutschen Sendern übertragen wurde. Es war einfach köstlich, wie er seiner Frau erzählte, „was der Japs für ein Gesicht machte und wie der Engländer aussah und wie der Franzose ziemlich in Rage kam und wie er selber beim Hinausgehen dem Holländer die Hand drückte und sagte: ,Sehr interessant, aber historisch nicht ganz einwandfrei”, und wie der Holländer verständnisvoll grinste.” Emerson hat gesagt, wenn man eine Knallbüchse knallen hört, soll man nicht glauben, daß es etwas anderes wäre als der Knall einer Knallbüchse, auch wenn alle Herren und Könige der Erde behaupten, es wäre Kanonendonner gewesen — er hat es besser ausgedrückt, aber im wesentlichen stimmt es; ich habe diesen Ausspruch immer als sehr amerikanisch empfunden und mich darüber gefreut, daß ein Amerikaner ihn getan hat. Der hiesige Botschafter hätte, glaube ich, auch so etwas sagen können…

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