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Ein deutsches Drama

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Eine prächtige Aufführung im Wiener Volkstheater: „Rose Bern d", von Gerhart Hauptmann, seit fünfzehn Jahren nicht mehr gespielt in Wien, erweist sich in der Regie Günter Haenels als eine der dramatisch stärksten Bühnenwerke des schlesischen Dichters. Nahtlos und gnade'nlos wird der Knoten geschürzt, in dem dieses Mädchen aus dem Volke sich zunächst verfängt und dann erwürgt wird von einer Schar enger, unerbittlicher Männer, die sich in die Hände arbeiten, gerade weil sie harte Gegner und Gegensätze sind: der „Herr Lieutenant", als Verführer und Geliebter Roses, Streckmann, als Erpresser, und ihr „Herr Vater", ein in seiner engen Selbstgerechtigkeit verfangener Greis. In der wuchtigen Aufführung des Volkstheaters (Martha Wallner als Rose, Grieg als Vater, Wögerer als „ihr Christoph") wird etwas sichtbar, was vielleicht erst heute, nach Jahrzehnten, nach dem Tode Hauptmanns selbst so ganz deutlich in Erscheinung treten kann: die großen Volksdramen Gerhart Hauptmanns (wie „Fuhrmann Henschel", „Die Ratten", „Der Biberpelz", „Die Weber") sind eine einzigartige Selfestdarstellung des deutschen Volkes in einer großen Krisen- und Wendezeit, sie bilden eine innere Kette, die von Person zu Person, von Schicksal zu Schicksal reicht und die in großen Zügen spezifische Prägungen des deutschen Menschen enthüllt. „Rose Bernd" ist keine zeitlose Gretchentragödie, ist auch nicht einfach das Drama von einem jungen Mädchen, das „sehr einsam" ist und deshalb zugrunde geht. Wenn ihr Bräutigam, dieser hilflose Gütige, der ebenso machtlos neben ihr steht wie die „Frau Lieutenant", die zweite Verkörperung liebeswilliger Schwäche, wenn dieser junge Christ neben der todwund Zusammengebrochenen im letzten Wort des Dramas erkennt: „Was muß das Mädel gelitten haben?", dann spricht Hauptmann hier ein Bekenntnis aus, das er und andere deutsche Dichter und Denker oft meinen, aber gerne umschweigen: Es gibt auf Erden keine Gnade und keine wirkliche Freiheit. Der Mensch ist nackt, geworfen; die „großen" Männer und Mächte spielen ihr Spiel, setzen sich durch und vernichten das, was ihnen unter die Hände kommt. — Die Entstehung des neueren deutschen Dramas aus dem Geiste eines späten Protestantismus (auch unser Grillparzer ist als Jansenist und und Josephiner dessen Sprößling) ist hier in jedem Wort spürbar. Nicht zufällig hat der Regisseur Haenel die Regie so straff angezogen, wie es die gnadenlose Dramaturgie des Calvinisten Brecht fordert. — Es wäre hochinteressant, gleich im Anschluß an „Rose Bernd" die anderen großen Volksdramen Hauptmanns gepielt zu sehen — vielleicht findet sich einmal ein Ort und ein Theatermann, der mit Hauptmann das wagt, was Saladin Schmidt mit Shakespeare gewagt hat. Die unheimlichen Lichter, die von der „Rose Bernd" auf die deutsche Tragödie an sich fallen, würden dann noch stärker sichtbar werden. Ganz im Sinne dieser großen Tragödie der Deutschen ist die Leidenschaftlichkeit, die Hemmungslosigkeit, das Fehlen aller Nuancen, aller mildernden Farben und Uebergänge in dieser Aufführung, die vom Publikum mit Recht begeistert akklamiert wird.

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