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Ein Dorf in Kalatricn

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Brancaleone am Ionischen Meer, nur sechzig Kilometer von Reggio, vierzig von Locri, aber ein Metischenalter von der Welt, in der wir leben, entfernt, in der faschistischen Ära berüch-tigt-gefürchteter Verbannungsort für die politischen Gegner, damals noch malariaverseucht, im Winter von der reißenden Flut der Fiumaren, im wasserlosen Sommer von der brütenden Hitze bedroht, heute ein vergessenes Dorf, das sich mehr an den dort gewonnenen Essenzen als am Leben berauscht, umgeben von bleichen, die Landschaft nach Afrika rückenden Sanddünen, bedeckt vom Himmel, der im Jahr neun Monate lang der Sonne zum unerträglichen Sieg verhilft, und vom mehlgrauen Staub überzogen, der von den Dünen und den landeinwärts gelegenen Hügeln herangeweht kommt, benachbart dem Meer, das sich, erregt von fernen Gewittern, unruhig vor der flachen Küste bewegt — dieses Brancaleone hat teil am geheimen Ruhm größerer Städte, einem Dichter flüchtige Heimat gewesen zu sein; denn am 15. März 1936 notierte Cesare Pavese nach drei Jahren Verbannung in Brancaleone und zerfressen vom Heimweh nach dem nördlichen Turin: „Verbannung zu Ende.“ Sechsunddreißigjährig also verließ er das Dorf, über dessen etwas im Hintergrund aus dem Sand ragenden Felsen, unterm Licht des frühen Mondes fast brennend rot, ihm keine Verse glückten, obwohl er es wünschte, obwohl er einmal schrieb: „Wären diese Felsen im Piemont, so wüßte ich allerdings, wie ich sie mir in einem Bilde zu eigen machen und ihnen eine Bedeutung geben könnte“ — und dessen Bewohner er vielleicht nicht liebte, aber gewiß so innig begriff, wie nur ein Dichter es kann; noch in der Verbannung notierte er einmal: „Fluchen, das ist für diese altmodischen Typen, die völlig überzeugt sind, daß Gott nicht existiert, ihn aber doch, auch wenn sie auf Ihn pfeifen, jeden Augenblick bis tief in die Haut spüren, wahrhaftig eine schöne Tätigkeit!“ Dieser rätselhafte Mensch, der zu jener Zeit an Gott noch nicht glaubte, war demnach überzeugt, daß Fluchen eine schöne Tätigkeit sei — und wie recht er doch hatte! Er wußte auch: Kalabrien ist noch nicht Europa und nicht mehr Orient, die Kala-bresen schweben zwischen zwei Welten, ohne einer von ihnen anzugehören, wahre Heiden noch dort, wo sie fromm wie Spanier sind, halb zauberischen Bräuchen hörig, halb dem ausgewanderten Vetter in New York oder Sidney n? rheifernd, ein Volk mit vielerlei Masken vor dem nur scheinbar leicht zu rührenden Antlitz. Er aber, der aufgeklärte Mann aus dem Norden, lebte mit ihnen, als gehörte er dazu, und wenn er litt, so zeigte er es nicht, asthmaleidend, vom ungewohnten Klima gebeugt, in eine unglücklich endende Liebschaft verstrickt, von der außer dem intimsten Freund niemand etwas ahnte, heftig diskutierend auch im Beisein des ihm wohlwollenden Polizeichefs, der ihm mehr Freiheit ließ als den anderen Verbannten und mehrmals ausgedehnte Fahrten ins Landesinnere erlaubte, aber dennoch einsam und auch verwirrt von der sinnlichen Heftigkeit dieses Landes, das nur dem Fremden todesähnlich erstarrt scheint, an Gedichten feilend und mit seltsamen Maximen beschäftigt, dem Meer zugewandt, dessen Mysterien er in Worte zu fassen versuchte, nächtelang versunken in politische Studien, deren Sinn er später dann vielfach nicht mehr begreifen sollte, in allem und jedem ein Italiener, ein Mensch des vibrierenden Südens, ein Piemontese zwar, aber einer mit nach Süden gerichtetem Blick, der bei Moby Dick, Hemingway und Faulkner das Mittelmeer nicht aus den Augen verlor, ein Poet, der trotz allem Gott jeden Augenblick bis tief in die Haut zu spüren bekam und in Brancaleone ein Dutzend Gedichte über Turin, in sein Tagebuch jedoch die bittere Erfahrung schrieb: „Aber im Grunde ist das Dichten eine immer offene Wunde.“

Pavese hinterließ keine breite Spur an der ionischen Küste, er zeugte kein Kind dort und pflanzte keinen Baum, schrieb nicht einmal einen Roman, und die Zahl seiner Freunde, die sich seiner heute noch entsinnen, ist erschütternd gering. Dort wuchert das Leben zu rasch und zu üppig, als daß man Mitleid haben könnte mit einem im Norden Gestorbenen, dessen Bedeutung hier unbekannt ist, dessen Werk man nicht kennt und dessen Name keine Erinnerung wachruft, es sei denn, ins Dorf kommt ein neugieriger Fremder und wühlt in alten Geschichten.

„Ich nämlich entsinne mich noch genau an Pavese“, sagte Oreste. ehedem intimster Freund des Dichters in Brancaleone, heute ein weißhaariger Mann, als wir am späten Nachmittag über den Corso Vittorio Emanuele flanierten, vorüber am weinroten Bahnhofsgebäude und den einstöckigen Häusern mit abblätterndem Verputz, dahinter das endlich beruhigte Meer in der Obhut des rauchigen Himmels, zur Linken ein offener Fleischerladen, davor an rostigen Haken hängend das noch blutende Fleisch, rot will's zur Erde tropfen, jedoch ein gierig geöffneter Hunderachen fängt auf, was, umbrummt von schwarzen Fliegengeschwadern, im Augenblick zur Seligkeit wird; neben dem Fleischerladen aber der jetzt verlassene Fischstand, in dessen Körben sich um diese Zeit keine Fische mehr drängten, nur noch fauliger Geruch hing schwer in der Luft, während auf dem staubigen Boden starräugige Fischköpfe lagen, in deren verzweifelt aufgerissenen Kiemen grünschillernde Käfer nisteten; eine braungesprenkelte Eidechse huschte hastig vorüber; langsamer dann ein graufelliger Esel; trottend zertrat er Fischkopf und Käfer.

„Schon wenn er sprach, war es anders; es war noch dieselbe Sprache, aber nicht mehr der gleiche Sinn“, sagte Oreste bewundernd und wandte sich um, denn wir hatten das Ende des Dorfes erreicht, vor uns gabelte sich unvermutet die Straße, deren einer Teil hinauf nach Brancaleone superiore, Staiti und Bruzzano führte, deren anderer aber die Küste verfolgte und sich vorüber am Capo Bruzzano nach Bovalino, Locri, Marina di Catanzare und schließlich nach Taranto zog.

„War er glücklich in Kalabrien?“ wollte ich wissen, während wir zurückgingen ins Dorf, schon fiel rasch die Dämmerung herab, die sinkende Sonne färbte das Meer, in den armseligen Läden zu beiden Seiten der Straße flammten die Lichter auf, Weiber standen noch schwatzend am Brunnen neben dem Bahnhof und hatten ihre bauchigen Krüge unter den dünnen Strahl gestellt, der nur stoßweise kam, dafür war der blutende Kadaver am rostigen' Haken vor dem Fleischerladen beträchtlich verkleinert worden, und Oreste fragte: „Wer in Kalabrien ist schon glücklich ...“, und er lächelte trüb.

Später dann führte er mich in sein Haus, das nahe am Meer lag, inmitten eines verwilderten Gartens, in dem neben Tabakpflanzen und kleinen Palmen auch eine riesige Bananenstaude wuchs, die freilich keine Früchte brachte; der Mond war aufgegangen, rot und rund füllte er den Himmel, die Zikaden schrien und das nahe Meer begann sich wieder unruhig zu rühren. Drinnen im Haus begrüßte mich Orestes Frau, eine Piemonteserin wie Pavese und von freundlicher, ruhiger Art; beider Tochter aber, noch nicht vierzehnjährig und doch schon mit breit geschwungener Hüfte, genierte sich vor dem Fremden und verschwand nach einem flüchtigen Gruß wild errötend im nächsten Zimmer.

„Pavese war ein Mensch, der nur schwer allein sein konnte“, sagte Oreste, „er brauchte immer Bewegung um sich, und doch verbarg er sich manchmal einige Tage lang und ließ niemand zu sich. Sehen Sie, ich habe keines von seinen Büchern gelesen, aber das braucht man wohl nicht, um den, der sie schreibt, zu verstehen; ich weiß, daß Pavese nie glücklich sein konnte...“ Er zeigte mir einige Briefe, und ich

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