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Ein Engel im Sari feiert Geburtstag

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In zwei Sälen liegen Männer und Frauen auf einfachen, niedrigen Betten. Ausgezehrte Körper, von Hunger und Krankheit gezeichnet, Menschen, die auf das Sterben warten. Trotzdem hat David aus Malta ein halbes Jahresgehalt ausgegeben, um .hier seinen Urlaub verbringen zu können: „Ich bin gekommen, weil ich denke, daß ich zwei Monate meines Lebens für diese Menschen opfern sollte.” David ist dem Ruf einer alten Frau gefolgt, die seit Jahrzehnten „Engel der Barmherzigkeit” genannt wird: Mutter Teresa.

Am 27. August 1910 wird in der Stadt Skopje im heutigen Mazedonien Agnes Ganxhe Bojaxhiu geboren. Agnes Familie gehört hier zu einer Minderheit - sie stammt aus Serbien, sie ist seit Generationen katholisch. Da Agnes ein zartes Kind und anfällig für Krankheiten ist, wird sie nach Letnice in Montenegro geschickt, an einen Ort, der für seine heißen Quellen ebenso bekannt ist wie für sein Marienheiligtum. In mehreren Kuraufenthalten findet Agnes eine tiefe Beziehung zur Muttergottes. Sechs Jahre braucht das Mädchen, um in Gebeten Klarheit über seinen Lebensweg zu finden.

Sie kommt mit Jesuiten in Kontakt, verschlingt die Berichte von Missionaren in Bengalen und bald kennt sie alle Namen, alle Orte, alle Einzelheiten dieser Arbeit; Indien geht ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Die Jesuiten in Skopje haben guten Kontakt zu den Loreto-Schwe-stern, dem irischen Zweig der Englischen Fräulein, die nach den Regeln der Jesuiten leben und in Bengalen arbeiten - für Agnes steht der Weg nach Indien offen. Am 29. November 1928 tritt sie in den Loreto-Orden ein und erhält den Namen Maria Teresa vom' Kinde Jesu.

Schon Anfang Jänner 1929, am „schönsten Tag ihres Lebens”, landet sie in Indien und beginnt ihr Noviziat. Doch nur wenig deutet auf ihre zukünftige Berufung, Maria Teresa wird als Lehrerin für die Töchter der englischen Oberklasse ausgebildet. Nach einiger Zeit erhält sie den Auftrag, an einer zweiten Schule, die in einem anderen Stadtviertel liegt, zu unterrichten. Auf ihrem Weg durch die Stadt wird sie zum ersten Mal mit dem Elend konfrontiert. Doch Maria Teresa bleibt weiter Lehrerin der „hohen Töchter”.

Im September 1946 ist Schwester Maria Teresa unterwegs zu ihren Exerzitien. Während einer Zugfahrt sieht sie ihren Weg plötzlich vor sich: „Es war der Ruf in der Berufung. Es war der Ruf, auch Loreto, wo ich sehr glücklich war, aufzugeben und auf die Straße zu gehen, um den Ärmsten der Armen zu dienen.” Seitdem wird der 10. September als „Tag der göttlichen Berufung” gefeiert. Maria Teresa legt das Kleid der Loreto-Schwestern ab und tauscht es gegen einen weißen Sari mit drei blauen Streifen. Doch ihr Enthusiasmus wird gebremst. Zwei Jahre dauert es, bis ihr die Generaloberin erlaubt, aus dem Orden auszutreten. Als die Genehmigung

endlich eintrifft, reist Maria Teresa nach Patna, um sich dort als Krankenpflegerin ausbilden zu lassen. Kurz vor Weihnachten 1948 kehrt sie nach Kalkutta zurück und macht sich auf die Suche nach einer Unterkunft für sich und alle, die ihre Hilfe brauchen.

Ihre erste Schule eröffnet sie in einem Elendsviertel der Stadt, und schon bald wird sie von ihren Schülern liebevoll Mataji, Mutter, genannt. Das Lebenswerk der Mutter Teresa, wie sie heute in aller Welt bekannt ist, beginnt. Sie bringt den Kindern das Alphabet bei und zeigt ihnen, wie man sich wäscht. Schon nach wenigen Tagen kommen zwei ihrer ehemaligen Schülerinnen, um mitzuhelfen. Und die Schule wächst.

Einige indische Kolleginnen, die sie aus früheren Zeiten kennt, machen mit. Mutter Teresa zieht durch die Hütten, besucht Familien, betreut die Kranken. „Ich wollte den Armen schenken, was die Reichen für Geld bekommen. Meine Armen brauchen die Liebe des Herzens und den Dienst der Hände.”

Am 19. März 1949 steht die erste Postulatin vor der Tür, im Mai sind es schon drei, im November fünf. Alle sind „höhere Töchter”, alle sind ehemalige Schülerinnen aus Loreto. „Wenn ein junges Mädchen der höheren Kasten zu uns kommt, um den Ausgestoßenen zu dienen, dann ist das eine Revolution. Die größte, die schwierigste. Die Revolution der Liebe.” Teresa, die bisher nur ihrer per-

sönlichen Berufung gefolgt ist, erhält nun eine neue Verantwortung. Der kleinen Familie fehlen noch ein Name und Begeln, nach denen sie ihr Leben für die Armen führen will. Am 7. Oktober 1950 werden die „Missio-naries of Charity”, die Missionarinnen der Nächstenliebe, mit dem Segen des Papstes gegründet.

Im April 1962 überreicht ihr der indische Ministerpräsident den Padma-Preis, die wichtigste Ehrung Indiens, die erste für Mutter Teresa. 1979 folgt der Nobelpreis. Zu dieser Zeit arbeiten bereits 2.000 Missionarinnen der Nächstenliebe in 67 Ländern.

Heute sind es 4.6O0 Schwestern, die sich in 107 Staaten um die Armen kümmern. Sie betreuen Flüchtlinge, die im Bürgerkrieg in Nigeria ihre Heimat verloren haben, ebenso wie' Behinderte in Hongkong und AIDS-Kranke in Afrika. Doch wer eine der Missionarinnen der Nächstenliebe' werden will, sollte wissen, wie dieses Leben ist. Sechs Monate dauert das Postulat, darauf folgen zwei Jahre einer vertieften geistlichen Ausbildung, das Noviziat. Ein Arbeitstag dauert bis zu 18 Stunden und beginnt um 4.30 Uhr. Daß der Zulauf zu den Schwestern Teresas dennoch anhält, ist wohl auf die Persönlichkeit ihrer Gründerin und die Ausstrahlung jener, die ihr schon gefolgt sind, zurückzuführen: immer fröhlich, versorgen sie ein Leben lang voller Hingabe „ihre” Kranken.

Anläßlich des 85. Geburtstages von Mutter Teresa am 27. August ist ein Bildband erschienen, der den Einsatz dieser zerbrechlichen Frau und ihr Werk, das sie selbst als göttliche Fügung betrachtet, würdigt. Ganz in ihrem Sinn wird in diesem Band kein weiteres Mutter-Teresa-Porträt vorgelegt. Vielmehr wird die Persönlichkeit in ihr Schaffen integriert, denn die Geschichte von Mutter Teresa ist nicht zu schreiben, ohne von den jungen Frauen zu sprechen, die ihrem Beispiel folgen.

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