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Ein gewöhnlicher AAorJ

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„Ich habe oft darüber nachgedacht“, sagte Herr Hanak, „warum wir eigentlich das Unrecht für etwas weit Schlimmeres halten, als all das Elend von dem die Menschen heimgesucht werden. Die Verurteilung eines Unschuldigen beunruhigt und quält uns mehr als der Gedanke, daß tausende Menschen in Not und Elend leben. Ich kenne Elend, mit dem verglichen jedes Gefängnis als ein Paradies erscheint, und dennoch erschüttert uns das größte Elend niemals so wie das größte Unrecht. Ich möchte fast behaupten, daß wir mit einer Art Instinkt für die Gerechtigkeit ausgestattet sind und daß unser Gefühl für Schuld und Unschuld, tür Recht und Gerechtigkeit ebenso ursprünglich, ebenso furchtbar und tief ist wie die Liebe oder der Hunger.

Ich war genau so wie Sie alle hier vier Jahre im Krieg. Wir brauchen einander nicht zu erzählen, was wir da gesehen haben. Man hat sich an so manches gewöhnt, vor allem aber an Tote. Sie können mir glauben, ich habe hunderte und aber hundert tote junge Menschen gesehen, manchmal auf grauenhafte Art tot. Und ich muß gestehen, es war mir schon so gleichgültig, als wären es alte Fetzen gewesen; nur der Gestank störte mich. Mensch, sagte ich mir damals, wenn du aus diesem viehischen Wirrwarr heil nach Hause kommst, dann kann dich im Leben nichts mehr aus der Fassung bringen.

Ungefähr ein halbes Jahr nach Kriegsende war ich daheim. Eines Morgens klopfte es an mein Fenster und jemand rief: .Herr Hanak, die Frau Turek ist ermordet worden, kommen Sie raschl'

Frau Turek war die Besitzerin eines kleinen Ladens mit Papier und Zwirn. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Nur hie und da betrat jemand den Laden und kaufte eine Spule Zwirn oder eine Weihnachtspostkarte. Vom Laden führte eine Glastür in eine kleine Küche; dort schlief die Alte. An dieser Tür hingen Gardinen, und wenn die Glocke im Laden schellte, schaute Frau Turek durchs Fenster, wischte sich die Hände an der Schürze ab und schlürfte in den Laden. ,Sie wünschen?' fragte sie mißtrauisch. Man hatte das Gefühl, ein Eindringling zu sein, und trachtete möglichst schnell wieder den Laden zu verlassen. Es war so, wie wenn man einen Stein von der Erde aufhebt und nun in der feuchten Mulde, in der er gelegen hatte, einen vereinsamten und aufgescheuchten Käfer hin- und herschießen sieht. Schnell läßt man den Stein wieder fallen, damit der widerliche Käfer sich beruhige.

Ich lief gleich hin, ich glaube aus ganz r;ewöhnlicher Neugier. Vor dem Laden drängten sich die Menschen wie Bienen vor dem Flugloch. Der Ortspolizist, der mich als gebildeten Menseben schätzte, erlaubte mir einzutreten. Schrill klang die Glocke durch die Stille des Ladens, ganz wie sonst. Aber ihr heller und eifriger Ton ließ mich in diesem Augenblick erschauern, mir schien, als gehöre er nicht hieher. Auf der Küchenschwelle lag Frau Turek mit dem Gesicht zur Erde, unter dem Kopf eine fast schwarze Blutlache. Die weißen Haare im Nacken waren blutig und schwärzlich verklebt. Und plötzlich fühlte ich etwas, was ich im Krieg nie gekannt hatte: das Entsetzen vor einem toten Menschen.

Merkwürdig, ich habe den Krieg fast ganz vergessen. Aber diese ermordete Alte, die eigentlich für niemand auf der Welt da war, diese armselige Krämerin, die nicht einmal imstande war, eine Ansichtskarte richtig zu verkaufen — die werde ich nie vergessen. Ein Ermordetor ist etwas anderes als ein Toter; etwas Furchtbares und Geheimnisvolles haftet ihm an. Unbegreiflich, warum gerade Frau Turek ermordet wurde, diese unauffällige, farblose Person, um die sich doch weit und breit niemand gekümmert hatte. Wie kam es, daß sie jetzt so pathetisch dalag, daß der Gendarm sich über sie beugte und daß sich draußen so viele Menschen drängten, nur um wenigstens ein Stückchen von Frau Turek zu sehen? Es war schon so: nie hatte das arme, alte Weib sich solcher Teilnahme erfreut wie jetzt, da sie mit. dem Gesicht in der schwarzen Blutlache lag. Plötzlich schien sie merkwürdig und schauerlich an Bedeutung gewonnen zu haben. Nie hatte ich beachtet, wie sie gekleidet war oder wie sie eigentlich aussah. Jetzt aber war es, als sähe ich sie durch ein ungeheuer stark und grotesk vergrößerndes Glas. An dem einen Fuß hatte sie einen Filzpantoffel, der andere war bloß. Man sah den an der Ferse gestopften Strumpf — noch heute sehe ich jeden einzelnen Stich; und auch das war furchtbar, ich hatte die Empfindung, daß auch dieser arme Strumpf gemordet worden war. Die eine Hand verkrampfte sich in den Fußboden, vertrocknet und hilflos wie eine Vogelkralle. Am schauerlichsten aber erschien mir der dünne Haarknoten im Nacken der Ermordeten. Er war sorgfältig geflochten und glänzte inmitten des Blutgerinnsels wie altes Zinn. Ich glaube, ich habe nie etwas Kläglicheres gesehen als diesen besudelten kleinen Zopf. Hinter dem Ohr war ein Blutstreifen eingetrocknet. Uber ihm glitzerte ein silberner Ohrring mit einem blauen Stein. Ich konnte es nicht länger ertragen; meine Beine zitterten. .Mein Gott im Himmel!' entfuhr es mir.

Der Gendarm, der etwas auf dem Küchenboden suchte, richtete sich auf und starrte mich an. Er war totenblaß wie vor einer Ohnmacht.

.Mensch, waren Sie denn nicht im Krieg?' stammelte ich. ,Ja, aber das hier ist etwas anderes', entgegnete der Gendarm mit heiserer Stimme. .Sehen Sie doch', er wies auf die Gardinen, die zerknüllt und fleckig aussahen; vermutlich hatte sich der Mörder an ihnen die Hände abgewischt. .Mein Gott!' stieß ich hervor. Ich weiß nicht, was eigentlich das Entsetzlichste daran war: die Vorstellung von den klebrigen, blutigen Händen oder die, daß auch die Gardinen, diese sauberen Gardinen dem Verbrechen zum Opfer gefallen waren. Plötzlich piepste der Kanarienvogel in der Küche und trillerte drauflos. Da hielt ich es nicht länger aus und rannte, von Grauen gejagt, aus dem Laden. Ich glaube, ich war noch bleicher als der Gendarm.

Im Hof setzte ich mich auf eine Wagendeichsel und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Dummkopf, Feigling! sagte ich mir. Das ist doch nichts als ein gewöhnlicher Mord. Hast du noch nie Blut gesehen, warst du nicht selbst mit deinem eigenen Blut besudelt? Hast du nicht deine Soldaten angeschnauzt, sie sollen die Grube für die hundertdreißig Toten etwas flotter graben? Hundertdreißig Tote, einer neben dem andern, das ergibt eine ganz stattliche Reihe, auch wenn man sie wie Schindeln schlichtet! Bist du nicht diese Reihe abgegangen, hast deine Zigarette geraucht und die Mannschaft angebrüllt: Vorwärts, vorwärts, damit das Zeug da einmal verschwindet! So viele Tote hast du gesehen, so viele Tote.

Ja, das ist es, sagte ich mir, so viele Tote — und doch keinen einzigen Toten. Neben keinem bin ich hingekniet, um ihm ins Gesicht zu sehen, um sein Gesicht, seine Haare zu berühren. Ein Toter ist furchtbar still; man muß allein sein mit ihm... man muß den Atem anhalten ... dann erst versteht man ihn. Jeder einzelne dieser hundertdreißig hätte dir sagen wollen: Herr Leutnant, man hat mich umgebracht. Sehen Sie meine Hände, es sind doch Menschenhände! Aber wir haben uns von den Toten abgewandt, wir alle; wir mußten Krieg führen, wir konnten nicht den Gefallenen lauschen. Mein Gott, um jeden einzelnen dieser Toten hätten die Menschen sich drängen müssen wie die Bienen um das Flugloch — Männer, Frauen, Kinder —, damit sie schaudernd wenigstens ein kleines Stück von ihm zu sehen bekämen: den Fuß im schweren Stiefel oder die verklebten Haare. Dann hätte es vielleicht nicht geschehen müssen; dann hätte es gar nicht geschehen können.

Ich habe meine Mutter begraben; sie sah so feierlich aus, so versöhnt, so ordentlich in ihrem schönen Sarg. Es war ein seltsamer Anblick, aber kein furchtbarer. Aber das — das ist etwas anderes als der Tod. Der Ermordete ist nicht tot. Der Ermordete klagt an, als schrie höchster, nicht zu ertragender Schmerz aus ihm. Wir beide wissen es, ich und der Gendarm: wir wissen von dem Spuk dort im Laden. Und so begann es in mir zu dämmern. Es sind Dinge in uns, die unsterblich sind, Dinge, wie der Drang nach Gerechtigkeit. Ich bin um nichts besser als irgendein anderer; aber etwas ist in mir, das nicht nur mir gehört — die Ahnung einer strengen und großen Ordnung. Ich weiß, ich drücke mich nicht gut aus: aber damals, in jenem Augenblick wußte ich, was ein Verbrechen, was eine Beleidigung Gottes ist. Laßt euch sagen: ein ermordeter Mensch ist wie ein entweihter und verwüsteter Tempel.“

„Und hat man den Mörder der Alten erwischt?“ ließ sich Herr Dobesch vernehmen.

„Ja“, antwortete Herr Hanak, „ich habe ihn gesehen, als ihn die Gendarmen zwei Tage später nach einem Lokalaugenschein aus dem Laden führten. Es waren vielleicht nur fünf Sekunden; auch ihn sah ich wie durch ein ungeheures Vergrößerungsglas. Er war ein junger Bursch. An den Händen hatte er Ketten; er schien es so merkwürdig eilig zu haben, daß ihm die Gendarmen kaum folgen konnten? Auf seiner Nase glänzten Schweißtropfen, und die hervorquellenden Augen zuckten verstört. Man merkte es ihm an, wie tief verängstigt er war — wie ein Kaninchen auf dem Seziertisch. Mein Lebtag werde ich dieses Gesicht nicht vergessen. Mir war elend zumute nach dieser Begegnung. Jetzt kommt er vors Gericht, stellte ich mir vor; einige Monate wird man ihn noch verhören und dann verurteilen. Ich muß gestehen, er tat mir fast leid; ich hätte vielleicht aufgeatmet, wenn er ihnen entwischt wäre. Nicht, daß er mir sympathisch war, nein, ganz im Gegenteil. Aber ich hatte ihn und das angstvolle Zucken seiner Augen zu sehr aus der

Nähe gesehen. Ich bin sonst nicht gerade empfindsam, zum Kuckuck, nein; aber so aus der Nähe — das — das war einfach ein Mensch. Aufrichtig gestanden, ich bin nicht sicher, ich weiß nicht, was ich als sein Richter getan hätte. Aber das alles drückte mich so nieder — ich hatte selbst Erlösung nötig.“

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