Ein Grashalm zum Festhalten

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Eine pensionierte Schuldirektorin hat erst mit Flüchtlingskindern gelernt. Nun alphabetisiert sie ganze Familien.

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Eine pensionierte Schuldirektorin hat erst mit Flüchtlingskindern gelernt. Nun alphabetisiert sie ganze Familien.

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Ich habe 30 Jahre lang in Floridsdorf unterrichtet. Später war ich Direktorin der Musikhauptschule in der Dietrichgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk. Nach meiner Pensionierung wusste ich: Ich will noch etwas machen. Durch meine Tochter, die das Diakonie-Flüchtlingshaus Rossauer Lände von der Dreikönigs-Aktion kannte, kam ich hierher in dieses Grundversorgungsquartier, wo circa 170 Flüchtlinge, großteils Familien, leben. Die Organisation ist fantastisch und man hat wirklich das Gefühl, dass man helfen kann.

Als ich im März 2013 begonnen habe, Erwachsene, aber auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu unterstützen, habe ich mich entweder nur mit ihnen unterhalten oder bei der Hausübung vom Deutschkurs geholfen. Wenn jemand für den Hauptschulabschluss lernt, dann übe ich auch Mathematik. Rasch habe ich angefangen, ganze Familien zu alphabetisieren; eine Familie aus Somalia, eine aus Syrien und jetzt in den vergangenen Ferien eine afghanische Familie.

Vorurteile gegen Analphabeten

Afghanen haben es schwerer in der öffentlichen Anerkennung. Man stuft sie als dumm ein, dabei sind sie gescheit und lernen schnell, aber viele sind unbeschult, weil sie schon als Kinder im Iran als Hilfsarbeiter am Bau arbeiten mussten. Auch viele somalische Kinder zwischen fünf und siebzehn hatten noch nie eine Schule von innen gesehen. Es ist dramatisch, wenn einem das bewusst wird, dass jemand von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz geflüchtet ist und sein ganzes bisheriges Leben lang in Flüchtlingslagern gelebt hat.

Ich erzähle im Bekanntenkreis kaum, dass ich hier arbeite, weil ich nicht immer dieselben Fragen beantworten will: "Kannst du dich nicht für österreichische Kinder oder die alten Leut' im Heim einsetzen?" Es soll jeder machen, was er glaubt. Ich will den Ärmsten der Armen helfen. Den wenigsten steht hier eine hoffnungsvolle Zukunft bevor. Ich mache mir besonders Sorgen um die 20-bis 25-Jährigen, die keine Schulbildung haben.

Ich habe schon als Lehrerin versucht zu handeln, anstatt mich nur über Schwierigkeiten zu ärgern. Hier bin ich ein Einspringer, manchmal tratsche ich einfach mit den Leuten. Eine Schule oder einen Deutschkurs kann ich natürlich nicht ersetzen. Die müssen organisiert und auch auf Qualität kontrolliert werden.

Ich kann nur ein kleiner Grashalm sein, an dem man sich anhält. In meinen zwei, drei Stunden, die ich jeden Dienstag und Mittwoch hier bin, möchte ich ein bisschen dazu beitragen, dass Menschen einfacher Deutsch lernen. Heute zum Beispiel übe ich mit einer Mutter die unregelmäßigen Perfekt-Formen. Sie lernt fleißig auswendig, irgendwann wird das Früchte tragen. In den dreieinhalb Jahren habe ich noch keinen einzigen Menschen getroffen, der nicht Deutsch lernen möchte.

Viel Dankbarkeit spürbar

Ich glaube, dass jeder, der einmal hier war und diese Leute und ihr Schicksal persönlich kennengelernt hat, niemals gegen Flüchtlinge oder Integration sein kann. Jene, die so empört sind, haben wahrscheinlich selbst noch wenig mit Flüchtlingen zu tun. Erst durch den direkten Kontakt kann man sich überhaupt erst eine Meinung bilden. Es sind wirklich total liebenswerte Menschen, höflich und freundlich. Sie sagen immer Bitte und Danke, sie klopfen an und sind dankbar.

Wenn auch Sie Interesse haben, in einer Einrichtung der Diakonie Flüchtlingen freiwillig zu helfen, melden Sie sich bitte unter: 01/402 67 54-1103 oder unter freiwillig@diakonie.at.

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