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Ein Hauch Traurigkeit

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Wie wir die Dinge sehen, ist nicht eindeutig ausgemacht; wie wir sie lieber nicht sehen wollen, darauf kommen wir schneller und brauchen nicht einmal ein „kleines Weilchen“, um feststellen zu können, daß uns die Aussichten auf die „Schuhchen“, „Kleidchen“ und „Höschen“ einer Fünfzehnjährigen langweilen, mögen die Umstände, unter denen dieser Anblick geboten wird, auch noch perverser sein als Im Roman „Hofenbollode“ von P. A. Quaran-totti-Gambini (aus dem Italienischen übertragen von A. Giachi. Langen-Müller-Verlag, München, 228 Seiten, Preis 14.80 DM).

Ähnlich ergeht es einem bei Roy Lewis' Roman über die Entwicklung der Affenmenschen zur Gattung des mörderischen homo sapiens („Der Affe fällt nicht weit vom Stamm“, Übersetzung aus dem Englischen von Wasserthal-Zuccori, Zsolnay-Verlag, Wien, 206 Seiten, Preis 79 S). Autoren wie Bingel, Nonnenmann oder OConnor fühlen sich in der von den Steinzeitaffen einer sehr plumpen Satire geschaffenen Welt nicht wohl; sie suchen „neue Richtlinien und Wege“, Wege, die das Eindringen einer anderen Welt in die unsrige nicht unmöglich machen. Lächelnd, schweigend, betend öffnen sie sich einer „anderen“ Welt, mag ihnen auch noch soviel Melancholie oder Traurigkeit in den Knochen sitzen.

Wer allem Ungewöhnlichen gegenüber mißtrauisch und ohne Diskretion in „Die Koffer des Felix Lumpach“ (Geschichten, von Horst Bingel, Insel-Verlag, Frankfurt am Main, 75 Seiten, Preis 9.80 DM) mit der rotio einbricht, wird sie wie Frau Auguste in der Titelgeschichte „leer“ finden. In Wirklichkeit aber enthalten genannte Koffer skurriles, fabelhaftes Allerlei in Form von 22, ihrem Umfang nach meist winzigen, Geschichten, die — eine wie die andere — ein phantastisch bunt gezeichnetes, sanft und zugleich charmant verdrehtes Bild alltäglicher Geschehnisse, wie sie sich auf den Straßen und Plätzen unserer Städte ereignen, darstellen. Ihr Autor hat sich von der zähen Masse der langatmigen Moralisten in die „Republik des Schweigens“ zurückgezogen. Schweigen (daß heißt in diesem Fall, die Welt wie sie ist weder anklagen noch korrigieren, noch sie retten wollen) ist eine wirksame Richtlinie: Wo immer sie die Welt berührt, gerät letztere aus ihren rationalen Fugen, fährt der Alltag vor unseren Augen aus der Haut, fliegt Herr Huppel im Küchenherd über die Dächer unserer Häuser, wird Neujahr demnächst im April gefeiert und wird eine schlafende Stadt von Fischen überfallen...

Eine ähnliche, an ein wenig romantische und uneingestandene Wunschvorstellung unseres rationalisierten Lebens rührende Kraft, geht von den Geschichten Klaus Nonnenmanns aus („Vertraulicher Geschäftsbericht“, elf Geschichten und ein Spiel, Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 130 Seiten, Preis 8.80 sFr). Während wir in der Gesellschaft Bingels auf Schritt und Tritt blühendem Unfug begegnen und er, wenngleich diese Welt nicht verlassend, immer an ihre, nämlich die Grenzen des Wunderbaren, führt, bringt uns Nonnenmanns zynische Kritik an der Eitelkeit und Betriebsamkeit unserer Gesellschaft wieder in die wohlbekannte Wirklichkeit zurück.

Wie verschieden Dinge gesehen und gedeutet werden können, wie unheilvoll es ist, wenn Menschen, zu keinem nachsichtigen Lächeln fähig, ihre Meinung gegen die des anderen als die allein richtige und gültige durchzusetzen trachten, zeigt der bekannte Pariser Kritiker und Schriftsteller Jean-Jacques Gautier in seinem Roman „Der Brunnen zur dreifachen Wahrheit“ (deutsche Ubersetzung von Margit Pflagner, Forum-Verlag, Wien, 294 Seiten, Preis 98 S).

„Ein Hauch Traurigkeit“ (Roman von Edwin O'Connor, Ubersetzung aus dem Amerikanischen von H. C. Retzer, Zsolnay-Verlag, Wien, 477 Seiten, Preis 120 S) will, wie der Autor ausdrücklich schreibt, nichts anderes sein als ein Familienroman, das heißt, als die Geschichte Charlie Carmodys, seiner Kinder und Kin-deskinder. Der anscheinend unverwundbare Charlie Carmody ist ein wunderlicher alter Kauz, voll Schrullen und grimmiger Willenskraft, dem es noch im Alter von 81 Jahren gelingt, seine Familie mit bühnenreifen Auftritten aller Art zu tyrannisieren. Sein Sohn John, der Priester wurde und den er das „kalte Prinzip“ zu nennen pflegt, ist nicht nur hart und verschlossen, sondern hat einen exemplarischen Vaterkomplex, der schließlich in Haß gegen die Menschen überhaupt umschlägt.

Außer Dan und Mary, die ihre Abhängigkeit vom Vater als natürlich hinnehmen und gutmütig bleiben, ist da noch Helen, eine gute Gattin und Mutter, die einzige der Carmodys, die es wagte, etwas wie Eigenregie in ihr Leben zu bringen, ohne dabei zu verzweifeln. „Ein Hauch Traurigkeit“ trennt sie von ihrer Familie und bindet sie, wenngleich nur „hauchartig“, an den Freund ihres Bruders, Hugh Kennedy, den Mann, den sie gerne geliebt hätte.

Diesen, als Geschichte weder epochemachenden noch besonders vorbildlichen Personenzusammenhang und wie Hugh Kennedy auf geistigen und geographischen Umwegen Pfarrer der heruntergekommenen St.-Pauls-Kirche seiner und der Carmodys Heimatstadt wird, läßt O'Connor Father Hugh Kennedy persönlich berichten. Seine — gänzlich aus dem Rahmen der Geschichte der Carmodys fallenden — Erfahrungen als Mensch und Priester sind es, die diesen Roman bedeutend machen. Zu diesen Erfahrungen gehört zum Beispiel die, wie Religiosität, unsere Verbindung mit Gott, die im Gebet jeweils neu erhalten und vertieft werden sollte, sich „durch Mangel an Übung rückbilden“ und schließlich sich verlieren kann. Und das auf harmlos aussehende Weise, durch die gutgemeinte Aktivität eines jungen Kaplans, der — über Frauen- und Männerrunden, Wochenversammlung, Sportwettbewerb und Kirchenchor — die Seelen seiner Pfarrkinder „herdenweise und im Galopp ihrer Erlösung zuzutreiben“ meint, der sich, von allen Seiten dazu aufgemuntert, in hektischer Geschäftigkeit verliert und schließlich keinen Augenblick mehr findet, „in dem er sich von seiner Betriebsamkeit lösen, allein sein, schweigen kann und still sein — in denen er nachdenken und beten kann... in denen er geistig wächst...“

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