Ein kompliziertes Geflecht

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Harald Haarmann erzählt die Geschichte der Sprachen.

Nachdenken über die Muttersprache: Damit beginnen manche Menschen, wenn sie Veränderungen beobachten und über Neusprech stolpern, der ihnen missfällt. Nachdenken über die 6400 Sprachen der Welt, ihre Zusammenhänge und ihre Entwicklung scheint eine Sache für Spezialisten. Bisher hat kein Fachmann aus dem deutschen Sprachraum gewagt, eine moderne Universalgeschichte der Sprachen zu schreiben. Jetzt gibt es sie. Ihr Autor, Harald Haarmann (geb. 1946), gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. In seiner "Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart" zeigt er, wie moderne Forschungszweige die historisch vergleichende Sprachwissenschaft bereichern: "Mit Hilfe der Humangenetik lassen sich Migrationen über mehrere zehntausend Jahre zurückverfolgen. Humangenetiker blicken damit in eine zeitliche Tiefe, die historisch-vergleichenden Sprachforschern verschlossen bleibt, weil es so früh keine schriftlichen Zeugnisse gibt."

Bis ins 18. Jahrhundert glaubten die Menschen, dass der Sprachenwirrwarr auf den Turmbau zu Babel zurückgehe. Erst der aufgeklärte Jesuit Lorenzo Hervás y Panduro (1735-1809) äußerte die Vermutung, es müsse mehrere Grundsprachen als Quellen der modernen Sprachen geben. Im 19. Jahrhundert herrschte der Glaube vor, die "Reinheit" der Nation sollte sich auch in der Reinheit, Unvermischtheit und altehrwürdigen Tradition der Sprachen erweisen. So rekonstruierten Wissenschaftler eine Ursprache der Indo-Europäer. Das klassische Modell war der Stammbaum. Heute verwendet die Wissenschaft ein anderes Bild: "Die Geschichte der Sprachen gleicht eher einem komplizierten Geflecht als einem sich immer weiter verästelnden Baum."

Harald Haarmann beantwortet Fragen, die sich eigentlich aufdrängen, etwa, wie neue Sprachen entstehen. In der Geschichte der Sprachen gibt es nämlich keinen Urknall. Er öffnet die Augen für die verschiedenen Konstruktionspläne und Baumaterialen von Sprachen. Im Deutschen sagen wir z.B. "ich werde singen". Die Italiener drücken das mit einem einzigen Wort aus: "Canterò". Da sind zwei völlig verschiedene Sprachprinzipien am Werk: Synthetismus und Analytismus. Und nicht schnelle Italiener gegen schwerfällige Deutsche.

Harald Haarmann erklärt die Entstehung von Sprachfamilien: Neben der indo-europäischen gibt es weltweit noch acht weitere; er spricht vom Zusammenhang von neuen Techniken ab 5000 v. Chr. - Ackerbau, Eisenverarbeitung - und der Verbreitung von Sprachen: Hier hilft die moderne Archäologie. Schließlich wagt er einen Blick in die Zukunft der Sprachen: Die großen werden wachsen, die kleinen verschwinden. Heute gibt es zwölf Sprachen auf der Welt, die von mehr als 100 Millionen Menschen gesprochen werden. Sechs davon sind Weltsprachen: Englisch, Spanisch, Russisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch. Europa ist also der Sprachenexporteur von Weltsprachen. Die anderen sechs seien "ohne globale Geltung", aber ihre Sprecher machen zusammen fast 40 Prozent der Weltbevölkerung aus. Diese sechs sind alle ursprünglich in Asien beheimatet: Chinesisch, Hindi, Arabisch, Bengalisch, Indonesisch, Japanisch.

Haarmann hält eine beruhigende Nachricht bereit für alle, die Englisch als Vernichter anderer Sprachen fürchten. Die globale Funktion des Englischen sei nur ein dünner Firnis, unter dem andere Sprachen keineswegs vom Aussterben bedroht seien. Bedroht sind kleine Sprachen, weil ihre Sprecher dem Druck der jeweils regional dominierenden Sprachen nachgeben. So schwächt sich z.B. das Ladinische im Kontakt mit dem Italienischen ab. Das Englische ist an solchen Assimilations-Prozessen unschuldig. Allerdings: Wer heute sprachlich wahrgenommen werden will, braucht Internet-Präsenz. Fast 600 Sprachen auf der Welt haben diese Präsenz bereits geschafft.

Haarmanns Buch ist keine Gute-Nacht-Lektüre. Verständlich geschrieben, doch Mitdenken fordernd: Eine Fundgrube.

Weltgeschichte der Sprachen

Von Harald Haarmann

C. H. Beck Verlag, München 2006

398 Seiten, brosch., € 15,40

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