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Ein Lebenswerk in 5000 Fugen

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Unter den Wiener Musikern hat es jederzeit allerlei Sonderlinge gegeben, die sich in der realer Welt nicht immer ganz zurechtfanden. Man würde die Latema magica eines E. T. A. Hoffmann brauchen, um diese Schattenrisse auf eine weiße Wand zu bannen und sie dann anmarschieren lassen, drollige, gravitätische, rührend hilflose, hypochondrische oder schrullige Träumer, die sich vor dem allzu grellen Tageslicht scheu verkrochen …

Unter ihnen würde auch der brave Simon Sechter auftauchen, zu dem einst der damals schon 33jährige Anton Bruckner aus seinem Provinznest pilgerte, um sich von ihm fünf Jahre hindurch in Generalbaß und Kontrapunkt unterweisen zu lassen. Auch Franz Schubert hatte im letzten Monat seines so kurzen Lebens beschlossen, bei Sechter Stunden zu nehmen. Aber einen Tag vor seiner ersten Lektion erkrankte er an Typhus und wurde zwei Wochen später begraben.

Seine Zeitgenossen sahen in Simon Sechter den größten Kontrapunktiker Österreichs, nach dem Steiermärker J. J. Fux. Es gibt auch seit hundert Jahren wohl keinen Theorieschüler, der nicht Sechters überaus scharfsinnige Analyse der Tripelfuge in Mozarts Jupitersymphonie studiert hätte. Denn Fugen waren Sechters Steckenpferd, wie wir noch sehen werden! Was ihn überdies den Wienern besonders lieb und wert machte, war seine rührend selbstlose Aufopferung für die Zöglinge der Blindenanstalt, die er viele Jahre lang unentgeltlich in Musik unterrichtete.

Es war jedesmal ein Fest für die Blindenanstalt, wenn er sich dort einstellte, und das geschah viermal in der Woche. Er widmete sich diesem Lehramt mit dem größten Eifer, bildete aus vielen seiner Zöglinge wahre Künstler heran und es gab eine freudige Überraschung für die Wiener, als er 1813 das erste öffentliche Blindenkonzert veranstaltete, bei dem seine eigenen Kompositionen aufgeführt wurden, nämlich ein Septett für drei Harfen, zwei Geigen, Klavier und Kontrabaß, sowie die „Glocke” für einen Kinderchor mit Klavier und Streichorchester. Fortan gh es oft derartige Überraschungen, die Seht® Namen populär mähten. Aber erst im Jahre 1815, bei einer Aufführung für die „Adelige Damengesellshaft”, erfuhr man, daß Sehter den Unterriht völlig gratis gab, worauf ihm eine Ehrengabe von hundert Gulden überreiht wurde.

Simon Sediter war das Kind mittelloser Eltern in Friedberg bei Oberplan, dem Geburtsort Adalbert Stifters. Er hatte von dem Regensdiori Maxandt etwas Musikunterricht erhalten. Aber sein Privatfleiß war so groß, daß er schon mit elf Jahren Messen komponierte und niht nur ein tüchtiger Organist wurde, sondern auch verschiedene Streichinstrumente beherrschte, darunter den Kontrabaß. Als ihn später ein Verwalter des Fürsten Schwarzenberg als Hauslehrer seiner Kinder nach Wien mitnahm, lernte er dort den weltberühmten Kontrabassisten D r agone 11 i kennen, der auf seiner von Gasparo da Salö gebauten Baßgeige Hexenkunststücke ausführte, die an Paganini gemahnten. Dragonetti schätzte Sechter als Kunstgenossen, wurde sein Freund und bedachte ihn später in seinem Testament, während er säne unschätzbare Baßgeige der Markuskirche in Venedig vermachte.

Sechter hatte sich in Wien zu einem überragenden Theoretiker fortgebildet, der auch von Beethoven höchlichst bewundert wurde. Für sein profundes Wissen auf diesem Gebiet spricht sein dreibändiges, bei Breitkopf und Härtel erschienenes Werk „Grundzüge der musikalischen Komposition”, das in seiner Art noch heute nicht übertroffen ist. Vom Hilfsorganisten an der Burgkapelle rüdtte er sdtließlich žum Hoforganisten auf, galt als vollendeter Mäster auf diesem Instrument, schrieb zahlreiche Messen und andere sakrale Werke. Für ein Requiem erhielt er von Kaiser Franz die große goldene Medaille, und fortan entlohnte ihn der Hof für jede neue Messe mit sechzig Gulden. 1850 ernannte man ihn zum Professor der Komposition am Konservatorium. Als Theoretiker wurde er von Privatschülern überlaufen. Unter ihnen muß man Gottfried Preyer, Fürst Czartorisky, Theodor Döhler, Ernest Pauer, Sigismund Thalberg, Gustav Nottebohm, Henry Vieuxtemps, die Brüder Bibi und vor allem Anton Bruckner hervorheben.

Als Kontrapunktiker hatte Sechter eigentlich keinen Lehrer gehabt, und es ist erstaunlich, daß er es auf diesem Gebiet zu solcher Meisterschaft gebracht hat. Die Welt der Harmonie hatte für ihn käne Geheimnisse, und der strenge Satz galt ihm als Inbegriff aller irdischen und göttlichen Ordnung, so erheiternd dies auch für den Laien klingen mag. Wenn man ihm glauben sollte, waren auch die ewigen, unverrückbaren Gesetze der Sphärenwelt nichts anderes als die endgültige Lösung der letzten Rätsel eines himmlischen Kontrapunktes. Deshalb erschien ihm di Fuge als höchstes in der Musik. Dagegen fand Kaiser Franz in Sechters erster Messe gar zu viele Fugen und Heß es ihm auch sagen, weshalb sich Sechter in seinen folgenden Messen auf ein halbes Dutzend dieser Kunstgebilde beschränkte, sehr zu seinem Leidwesen!

Von seinem dreißigsten Lebensjahr an hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, täglich eine Fuge zu schreiben. Er hatte darin eine solche Meisterschaft erlangt, daß ihm der geringfügigste Anlaß genügte, um ein Fugenthema zu hören, im Knarren eines Wagenrades, im Kreischen der Türangel, im Peitschenknall der Kutscher. Aber er hörte nicht nur das Fugenmotiv, sondern sofort auch dessen Gegenstimme! Das kunstvolle Gebilde des Jagens und FHehens stand im Nu vor seinen Augen. Schon aus der Art, wie man einen Satz aussprach, aus der Hebung und Senkung der Silben hörte er eine Fugenmelodie heraus. Es genügte ihm dazu eine Zeitungsnotiz, ein Datum, ein Erinnerungstag.. „ ja, er pflegte fest und steif zu behaupten: „Auch rin Wäschezettel kann zu einer Fuge werden!” Fand er dagegen Wörter, deren änzelne Buchstaben auch Notennamen bezeichneten, wie „Affe, Bagdad, Ade, Bach, Fesca, Cassa, Haß, Abgabe, es geschehe, Edda” und dergleichen mehr, so formte er aus ihnen die eigenartigsten Fugenthemen.

Er lebte und webte derart in Musik, daß er überzeugt war, daß sich der Kontrapunkt auch im alltäglichen Leisen durchsetze. Überall witterte er eine Fuge und deren Gegenstimme, zwischen Lehrer und Schüler, Herr und Diener, Mann und Frau. „Würden che Leute in Fugen denken, wäre im Leben alles viel leichter und man würde sich vertragen I” war seine unumstößliche Meinung.

Als er im Jahre 1860 erkrankte, mußte er für einige Zeit auf sän Fugenschreiben verzichten, was ihn ungemein bedrückte. Nach seiner Genesung gestand er: „Wie jener, der lange nicht bä seiner Geliebten war, sich nach ihr sehnt, so sehne ich mich nach der Fuge!” Damals vollendete er nach seiner eigenen Berechnung die 5000. Fuge!

Er hat also auf diesem Gebiet auch das Lebenswerk der ganzen Dynastie Bads übertroffen, obgleich ihm die vollendete Schönheit und unsterbliche Größe der Fugen des Thomaskantors unerreichbar bUeben, trotz aller technischen Vollendung.

Neben seiner täglichen Fuge arbeitete er außerdem auch an den verwidceltsten Aufgaben. Bekanntlich hatte Beethoven über einen Walzer von Diabelli 33 Klaviervaria-tionen geschrieben, eine mit Recht angestaunte geniale Leistung! Sechter dagegen hatte sich Lm Jahre 1833 vorgenommen, 104 Variatonen über ein Thema von 104 Takten zu schreiben. Nur ein Fachmann kann den Umfang einer solchen Aufgabe ermessen. Nach seinem eigenen Geständnis war es eine „Selbstgeißelung’’, und man begreift, wenn er am 27. Oktober desselben Jahres die letzte Variation mit der Überschrift „Gott sei Dank!” versah ,..

Sechter hatte sich im Jahre 1816 mit1 der schönen Bürgerstochter Katharina Heckmann verheiratet und lebte mit ihr in glücklichster Ehe, obgleich Kathi von der Fuge gar nichts verstand und manchmal sogar das Verbrechen beging, sich mit einem Fugenthema die Locken einzuwickeln. Im Privatleben war Sechter herzensgut und arglos wie ein Kind. Einige Jahre vor seinem Tod verlor er durch die Betrügereien eines Freundes seine Ersparnisse und wurde bettelarm. Heilmesberger erbat heimlich eine Audienz bei dem Kaiser Franz Joseph und schilderte die Lage, worauf man Sechter eine Künstlerpension bewilligte. Aber inzwischen war der Alte am 10. September 1867 gestorben und der Betrag reichte knapp hin, um die Leichenkosten zu decken.

Nur ein geringer Teil der Werke Sechters sind im Drude erschienen, die meisten blieben Manuskript und befinden sich heute in der Nationalbibliothek und in der Musiksammlung der Gesellschaft der Musikfreunde. Die Methode Sechters wurde von mancher Seite als gar zu weitläufig und trocken bezeichnet. Aber Anton Bruckner, dessen schriftliche Aufgaben bei Sechter sieben mächtige Foliobände umfassen, erklärte diese Methode als das großartigste handwerkliche Rüstzeug für einen Komponisten …, nur müsse man sich nicht immer daran halten und den Mut haben, manchmal der eigenen Eingebung zu folgen! Sechter war mit seinem Schüler Bruckner ungemein zufrieden. Um ihn zu belohnen, schenkte er ihm am letzten Unterrichtstag — eine Fuge!

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