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Ein Maler als Städtebauer
Es geht in Wahrheit nicht um Förderung der Künstler, sondern um ihre volle Einbeziehung in die Gestaltung unserer Wirklichkeit. In England wurde unlängst ein Beispiel dafür geliefert, wie so etwas zu verstehen ist. Dort war es sogar einem Bauherrn, dem Manager der Peterlee Development Corporation, einem Bauunternehmen für industrielle Siedlungen, aufgefallen, daß die Architektur ihrer bis dahin gebauten Wohnviertel langweilig und öde war. Der Manager holte sich also den abstrakten Maler
Viktor P a s m o r e und engagierte ihn, gemeinsam mit dem Architekten des Unternehmens, neue Ideen in die visuelle Konzeption der Bauvorhaben zu bringen. Es zeigte sich hierbei, daß gerade ein Künstler für so etwas nicht nur die Fertigkeit seines Pinsels, sondern auch sein im Umgang mit Farben und Formen geschultes Auge und sein Gefühl für die reale Auswirkung vorgedachter Proportionen mitbringt. Die mit Hilfe dieses Künstlers entstandene Siedlung von Peterlee ist ein Musterbeispiel gelungenen Städtebaues geworden.
Welch verzweifeltes Unterfangen für einen schreibenden Menschen, heute über einzelne Werke hinaus zu einem Oeuvre, zu einer konsekutiven Gesamtgestaltung der eigenen Zeitwelt im Sinne Balzacs zu gelangen! Der letzte, dem das — wenn auch in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen — in Österreich gelungen ist, war Schnitzler. Nach ihm gab es sicherlich eine Reihe bedeutender Leistungen. Keine jedoch weist mehr jene Geschlossenheit als Darstellung einer ganzen Ära und Gesellschaft auf.
Wieviel Souveränität, wieviel Mut, die Menschen der eigenen Umgebung zu kreiieren, doch gleichzeitig auch: wie viel Substanz mußte jene so vielgeschmähte Gesellschaft des Fin de siede immer noch besessen haben, um das zu ermöglichen; wie stark und selbstbewußt muß sie sich noch in jedem einzelnen, ob hoch oder nieder, ob treu oder falsch, dargeboten, wie sehr muß jeder sich noch zu sich selbst, zu seinen Fehlern, Lastern, Lächerlichkeiten — und zu seinem Schicksal bekannt haben!
Was kann ein Minister für Unterricht tun, damit Menschen sich hin setzen und Gleiches unternehmen? Reichen da die Würdigungs- und Förderungspreise, die Wettbewerbe, Subventionen an Theaterdirektoren und Verlage? Ist derlei nicht immer nur die Statuierung von bereits Zustandegekommenem und viel weniger dessen Hervorrufung? Wie schwierig muß es manchesmal für die Beamten sein, Literatur so zu administrieren! Geht es da nicht um viel, viel mehr, noch dazu in unserer Zeit, in der der Terminus von den „Ingenieuren der Seele“ geschaffen worden ist, dieweil man früher noch von „Gedichten in Erz und Stein“ gesprochen hatte! Gälte es da nicht, sich mit allen und jedem zu verschwören, um den jungen Leuten das Gefühl zu verschaffen, daß das Schicksal von Menschen und Völkern in Wahrheit, und auf viel weiterreichende Weise an den Schreibtischen der Dichter gestaltet und entschieden wird, und erst in zweiter Linie an denen der von ihnen inspirierten und belehrten Lehrer, Staatsmänner, Politiker und Wirtschaftler?
Eine Gesellschaft, anonym wie die unsrige, mit so beschränkter Haftung für die Seele des einzelnen, hat es bitterer denn je nötig, das Gesicht zu bekommen, das ihr lediglich durch den gestaltenden Künstler zukommen kann. Eigenständige Gestaltung ist eines der schwierigsten Unterfangen überhaupt geworden, da alles — von der Architektur bis zur Zeitungsillustration vorfabriziert — mit weniger persönlicher Verantwortung und persönlichem Sich- bekennenmüssen verbunden ist.
Eine Gesellschaft, so unartikuliert, daß sie keine freien Redner besitzt, kaum eine Sprache überhaupt, außer einem aus dem Zeitungsenglisch entlehnten Pressewelsch oder dem Kauderwelsch verschiedener Parteiungen, und eine faktisch bei Goethe stehengebliebene und in ihrer weiteren Entwicklung von Thomas Mann aufgehaltene Literatursprache, mit der kein Mensch etwas im Leben anfangen kann. Wie fern von Gestaltung, da an unseren Hochschulen keine Dichter sind, keine Vorlesungen über die Problematik des neuzeitlichen Deutsch, über seine
Grammatik und Stilistik abgehalten werden! Eine so wenig gestaltete Sprache, daß sie immer mehr in Abstraktionen und Verallgemeinerungen und im unechten Hauptwort versinkt.
Wege zu einer neuen Dramatik
Auch von der Geschichtswissenschaft hätten die jungen potentiellen Dichter Österreichs viel mehr Anregung, Inspiration und Ermutigung auf den Hochschulen zu empfangen. Die Geschichte der Ersten Republik und der Anschlußzeit in Österreich ist voll tragischer Inzidente, die auf Gestaltung durch eine bereits herangewachsene und persönlich unbefangene Generation warten. Man stößt sogar in der zeitgenössischen englischen Literatur auf mehr Werke über jene Perioden in Österreich als in der österreichischen. Ein bescheidener Anfang wurde jetzt mit der Erforschung unserer jüngsten Vergangenheit gemacht — viel zu bescheiden. Wir würden ihn in Hinblick auf den so dringenden Bedarf unserer Hoch- und Mittelschulen — zum Beispiel durch Forschungsaufträge — gerne bedeutend erweitert sehen. Sollen denn die ersten poetischen und dramatischen Versuche unserer Septimaner und Oktavaner in alle Ewigkeit nur Themen aus der Antike zum Gegenstand haben?
Einer der Orte, an dem eine Zeit und Gesellschaft gestaltet und damit auch die Sprache lebendig erhalten und entwickelt wird, ist die Bühne. Aber unser Theater ist — sofern es sich um die österreichische Dramatik handelt — retrospektiv, es bietet lediglich den Regisseuren und Schauspielern Gelegenheit, alte Themen aufs neue — und oft auf sehr schöne, wesentliche und ansehnliche Weise — zu variieren. Da sich unser staatliches Prosatheater jetzt einen neuen Dramaturgen geholt hat — einen neuen Typ in Haltung und Ansprüchen, — wäre das nicht die Gelegenheit, eine neue Ära einzuleiten, in der der Dramaturg am Theater nicht mehr eine Art Reklamemanager und Programmheftverfasser von Artigkeiten über zeitlich oder örtlich entfernte Autoren ist, sondern hauptsächlich einer Aufgabe obliegt: dafür zu sorgen, daß neue Stücke geschrieben, neue Autoren kreiiert und entwickelt werden. So etwas geht nicht — wie die Erfahrungen nun bewiesen haben — durch Preisausschreiben und auch gar nicht so sehr in erster Linie durch materielle Unterstützung (die nichtsdestoweniger immer parat sein muß), sondern durch häufige und lange Kontakte und Gespräche zwischen den potentiellen Autoren und dem Dramaturgen, in denen der eine das subjektive Zeit- und Welterleben und der andere das Wissen um Form, Wirkung und Aufnahme beisteuert.
In den Diktaturen wird die Kultur durch Bevormundung entseelt, in den Demokratien durch Vereinsamung.
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