6612456-1955_09_03.jpg
Digital In Arbeit

Ein Mann aus Nisdinij Nowgorod

Werbung
Werbung
Werbung

Nach der Darstellung der wichtigen sozialpolitischen Hintergründe der gegenwärtigen Entwicklungen in der Sowjetunion behandelt der bekannte Rußlandfachmann nun eine- der charakteristischesten Gestalten des Regimes.

Nikolai Bulganin ist 1895 in N i s c h n i j Nowgorod geboren. In der Stadt an der Wolga, dem Schicksalsstrom Rußlands, die selbst oft russisches Schicksal war. Diese Gouvernementshauptstadt schlief in tiefem Schnee den Winterschlaf und war dann einfach eine träge russische Provinzhauptstadt. Kaum aber taute der mächtige Strom auf, erwachte auch sie zu geräuschvollem Leben. Die • Sommermonate wollten genutzt sein. Aus ganz Rußland strömten die Menschen zu den Ufern der Mutter Wolga, der Ernährerin, wie der Volksmund den Strom nennt. Nach Nischnij Nowgorod strömten die Vagabunden, das Lumpenproletariat des ganzen großen Rußlands. Hier gab es Arbeit und Brot den ganzen Sommer.

In der Kaufmannsstadt Nischnij Nowgorod begannen die Goldmillionen durch die Luft zu schwirren. Gewaltige Warenmengen wurden gekauft und verkauft. Bis im Herbst das alljährlich sich wiederholende rauschende Handelsfinale des Sommers kam — die größte Warenmesse Rußlands.

Nicht nur die Kaufleute ganz Rußlands und die ausländischen Einkäufer russischer Rohstoffe aus der ganzen Welt kamen nach Nischnij Nowgorod. Auch eine Armee von Köchen und Kellnern. Und als Hauptstreitmacht die hochgeschürzten Vertreterinnen der leichten Muse, der Operette, des Tingeltangels, Chansonetten, Tänzerinnen und die sich so nannten.

Zwischen dem Lumpenproletariat des Hafens und dem bacchanalartigen Tanz der Goldmillionen stand das bodenständige Kleinbürgertum: Die Kapitäne und Maschinisten der Wolgaflotte. Die kleinen Handelsangestellten und Buchhalter, die Beamten und Handwerker. Arbeitsam, ordentlich und nüchtern. Sie sahen das graue Elend des Proletariats, sie sahen den wilden Tanz der Millionen... Sie sahen Schmutz und Verkommenheit. Sie sahen Völlerei und sinnlose Verschwendung und machten sich ihren Vers dazu. Manche aus diesem ärmlichen Kleinbürgertum lernten Rücksichtslosigkeit, gebrauchten ihre Ellbogen und wurden selbst millionenschwere Handelsherren. Bei anderen wieder bewirkten die Eindrücke einen gerade umgekehrten psychologischen Prozeß — sie wurden zu eisenharten Revolutionären. Lange vor der Revolution, als die Partei Lenins noch klein war, hatte Nischnij Nowgorod eine ansehnliche bolschewistische Organisation. Von hier kam der Freund Lenins, der erste Parteisekretär Moskaus nach der Revolution, Wladimir Zagorski, den eine Bombe der Anarchisten 1919 in Stücke riß. Hier lebte als kleiner Beamter der provinziellen Landesverwaltung Heinrich J a g o d a, den die Revolution später zum Herrn über Leben und Tod der Sowjetbürger machte, der zum allgewaltigen Chef der Geheimpolizei wurde, den aber die Macht korrumpierte und der schließlich selbst seinem eigenen Henker verfiel. Auch das Lumpenproletariat des Hafens gab seinen menschlichen Beitrag zur Revolution. Hier vagabundierte oft hungernd und frierend der kleine Alexej Peschkow, eingegangen in die Weltliteratur unter dem Namen Maxim Gorkij. Die Jugendeindrücke machten auch den Dichter des „Nachtasyls“ zum dynamischen Revolutionär des Wortes, zum Freunde Lenins und Stalins.

Hier, in der kleinbürgerlichen Sphäre Nischnij Nowgorods, wurde also Nikolai Bulganin geboren. Sein Vater, Alexander Bulganin, war Buchhalter in einer kleinen Fabrik. Ein sehr bescheidener, doch ordentlicher und arbeitsamer Haushalt. Dem jungen Bulganin geht es so wie vielen aus dieser Schicht, aus der Stadt der Kontraste. Die Opposition gegen das Bestehende wächst in ihm. Er will heraus aus der kleinbürgerlichen Enge. Vorläufig sucht er einen dritten Weg — den Weg der Bildung. Für junge Leute seines Standes führte der Weg zur Bildung im alten Rußland am .besten über die Realschule. Die Realschule öffnet den Weg zur Technischen- — oder zur Handelshochschule. Doch die Realschule kann der junge Nikolai nicht beenden. Die Not der Familie zwingt ihn zum Broterwerb. Er sucht Verdienst als Angestellter, zeitweise sogar als Arbeiter in einer Textilfabrik.

Dem heutigen Bulganin, dem alten Revolutionär und Ministerpräsidenten, sieht man die Nischnij-Nowgoroder Jugend noch an: Der gerade Scheitel, die Stirnlocke nach oben gekämmt, zu einer kunstvollen, aber ordentlichen „Tolle“ — man sieht diese Haartracht heute nur noch selten... In Rußland war sie die Haartracht des Kleinbürgertums, der kleinen Handelsangestellten, der Handwerker und gelernten Arbeiter, der Schreiber in den Regimentskanzleien. In der Sowjetunion trägt nur noch einer eine solche Frisur, der Staatspräsident Marschall Woroschilow, der, wie übrigens auch Molotow, Kaganowitsch, die meisten heutigen Sowjetführer und auch der verstorbene Stalin, dieser sozialen Schicht entstammt. Diese untere Schicht des Kleinbürgertums hat schließlich die Führung des Proletariates und der Revolution an sich gerissen. Noch volksverbunden, noch die Sprache der untersten Volksschichten sprechend und von ihnen als ein Teil ihrer selbst empfunden. Und die schließlich, härter, zielstrebiger und volksverbundener, die Herrschaft an sich rissen und die Intellektuellen der Revolution vernichteten.

Im Februar 1917 stürzte der Zar. Die Revolution begann. Und der junge Bulganin wußte sofort, wohin er jetzt gehörte. Innerhalb weniger Monate wurde aus dem 22jährigen ein geschulter, wissender Revolutionär.

Als Lenin und seine Partei im Oktober 1917 siegte, wurde Bulganin in den Sowjet seiner Heimatstadt gewählt.

Lenin verkündete damals die Parole: „Alle Macht den lokalen Sowjets.“ Von Petrograd aus konnte man in dem Chaos die Provinz nicht lenken. In Nischnij Nowgorod mit einer beinahe zehn Jahre alten starken bolschewistischen Parteiorganisation entstand ein sehr nüchterner und kein wild-romantischer Sowjet wie an vielen anderen Orten. Es war nicht weiter verwunderlich, daß dieser Sowjet Bulganin zum Chef der wichtigsten Behörde, der „Tscheka“ wählte. Die „Tscheka“ der Revolutionszeit ist nicht einfach als politische Geheimpolizei zu betrachten. Sie war ein Organ des revolutionären Terrors. Lenin erließ das Dekret vom „roten Massenterror“. Und dem Tode verfielen nicht nur offene Gegner des neuen Regimes. Geiseln wurden erschossen. Ganze Kategorien wurden aus politischer Zweckmäßigkeit dem Tode überantwortet.

Bulganin vernichtete alles, was der neuen Macht gefährlich werden konnte. Doch ohne allen Haß, kalt und sachlich. Um diese „Tscheka“ bildete sich überall ein „Apparat“. In diese Organisation strömten massenweise Menschen, die ein blutiges, gefahrvolles, in jeder Beziehung ausschweifendes Leben suchten. Wilde Gesellen, Sadisten und von Blutrausch und Machtwahn Besessene. Das duldete Bulganin nicht. Jeder seiner Mitarbeiter, der sich als Sadist entpuppte oder einem ausschweifenden Leben zuwandte, verfiel ebenso dem Tode wie die Feinde. Ein solcher Chef der „Tscheka“ war nach dem Geschmack Moskaus. Im Laufe des Jahres 1918 versammelte sich in Petrograd ein Kongreß der Tschekisten und beschloß die Organisation einer Zentralbehörde in Moskau. Jetzt wurde der vorbildliche Tscheka-Chef nach Moskau berufen und mit neuen Aufgaben an die Fronten des Bürgerkrieges in Ostrußland und Zentralasien abgeordnet. Der Bürgerkrieg in diesen Gegenden wurde besonders grausam, besonders erbittert geführt.

1922 ging der Bürgerkrieg zu Ende. Bulganin war nicht Revolutionär um der Revolution allein willen. Aus der Tscheka wurde die GPU. Bulganin trat aus. Damit blieb ihm das Schicksal Jagodas, Jeschows, Berias und ihrer Mitarbeiter erspart.

Der zuverlässige Vollstrecker der Befehle der Partei meldete sich in Moskau für andere Aufgaben. Ihm wurde der Wiederaufbau der großen zerstörten Fabrik für elektrische Maschinen in Moskau übertragen. Während er diese Aufgabe glanzvoll löste, setzte er sich gleichzeitig hinter die Bücher und studierte an der Industrieakademie. Das war die ehemalige Handelshochschule, jetzt die Hochschule für Wirtschaftsorganisation. Nach anderthalb Jahrzehnten kam Bulganin doch dorthin, wohin er wollte, als er in die Realschule eintrat. In das wiederhergestellte Werk wurde er als Generaldirektor eingesetzt und bewährte sich wieder. Er war immer noch das einfache Parteimitglied, ohne jeden Parteigrad. Doch als Industrie- und Wirtschaftsorganisator hatte er sich bereits einen Namen gemacht.

In den beginnenden Parteikämpfen trat er nicht hervor. Er drängte sich nicht in den Vordergrund. Doch eindeutig stand er auf der Seite Stalins gegen die oppositionellen Intellektuellen.

So berief man ihn 1931 als Vorsitzenden des Moskauer Sowjets. Das war bis dahin ein politischer, hochwichtiger Posten. Sein abgesetzter Vorgänger, Kamenew, war gleichzeitig Chef der wichtigen Moskauer Parteiorganisation und Mitglied des Politbüros. Jetzt war es ein einfacher Verwaltungsposten, allerdings mit gewaltigen Wirtschaftsaufgaben. Chef der Moskauer Parteiorganisation wurde Kaganowitsch. Kaganowitsch und Bulganin hatten zusammen die Moskauer Metro zu bauen. Eine gewaltige Aufgabe. Außerdem sollte der neue Bürgermeister die Grundlage eines neuen Moskaus schaffen. Häuser wurden niedergerissen, Häuser wurden verschoben, der Grundstein für manchen Wolkenkratzer gelegt. Ein Plan für den gigantischen Bau einer Achtmillionenstadt.

Es nahm nicht wunder, daß Nikolai Bulganin 1937 zu einem neuen wichtigen wirtschaftlichen Amt berufen wurde. Bulganin wurde Vorsitzender des Verwaltungsrates der Staatsbank. Da auch in der Sowjetunion die Staatsbank ein autonomes Institut ist, kam damit Bulganin an denjMMMer Sowjetregierung. Er nahm mit be-rate]Btimme an ihren Sitzungen teil. Auch hier ffirrer eine große wirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Die Festigung der zerrütteten Kaufkraft des Rubels, die Organisation des bargeldlosen Zahlungsverkehrs der Staatsunternehmen, ein System, das der besseren Regulierung des Geldumlaufes und gleichzeitig als Kontrollapparat der Wirtschaft dient. Auch diese Aufgabe meistert Bulganin.

Erst jetzt beginnt Bulganin eine Rolle in der Partei zu spielen. 1940 wird er Mitglied des Zentralkomitees der Partei. Es ist verständlich, daß Bulganin, der das neue Moskau geplant hat, bei der Verteidigung der Stadt vor den Armeen Hitlers eine hervorragende Rolle spielt. Er ist auch Mitglied des Obersten Verteidigungsrates. Man ernennt ihn zum Generalleutnant. Eine Reihe anderer Aufgaben wird ihm im Kriege übertragen, darunter auch die eines politischen Kommissars beim Marschall Schukow, mit dem er sich glänzend versteht. Ueberhaupt entwickelt hier Bulganin ein glänzendes Talent für den Umgang mit Menscnen- 1944 beruft ihn Stalin als seinen Stellvertreter ins Verteidigungsministerium. Er wird bald darauf Ersatzmann im Politbüro und schließlich erlangt er die höchste Parteiwürde, er wird ordentliches Mitglied des Politbüros — 1946 wird er stellvertretender Ministerpräsident. Stalin organisiert ein Regierungskollektiv, will etwas im Hintergrund beobachten, wie die für die Zeit nach seinem Tode geplante kollektive Leitung der Staatsgeschäfte funktioniert. 1947 gibt daher Stalin auch das Verteidigungsministerium an Bulganin ab. Bulganin wird Kriegsminister. Traditionsgemäß wird er noch im selben Jahre, anläßlich des 30jährigen Revolutionsjubiläums zum Marschall ernannt. Nach dem Tode Stalins bleibt Bulganin einer der vier ersten Stellvertreter des Ministerpräsidenten und Kriegsminister.

Es ist ein langer Weg, den der Mensch' Bul-ganjn in den 30 Jahren seit der Revolution zurückgelegt hat. Er hat sich so verändert wie seine Geburtsstadt. Das alte Nischnij Nowgorod besteht nicht mehr. Die Stadt heißt jetzt Gorkij, nach dem großen Dichter, der auch hier geboren wurde. Verschwunden sind die millionenschweren Kaufleute,;_verschwunden auch das Lumpenproletariat des Hafens. Die Einwohnerschaft Gorkijs hat die halbe Million überschritten. Sie ist mehr als fünfmal so groß als zu den Zeiten, da Bulganin dort lebte. Sie ist eine Stadt der Schwerindustrie geworden, vor allem des Automobilbaues, das russische Detroit. Und so hat sich auch der Mann Bulganin verändert. Mit jeder neuen Aufgabe wuchs er. wurde realistischer, sachlicher. Der konservative Zug seines Charakters trat stärker in den Vordergrund. Der schwärmerische Internationalismus verblaßte immer mehr und wich einer gemäßigten russisch-nationalen Färbung. Bulganin ist härter und sicherer als Malenkow Seine Erfahrungen als Verwaltungsmann unc' Organisator sind bedeutend größer. An der Sowjetpolitik, vor allem an der Außenpolitik wird sich in den Grundzügen nichts ändern Der sowjetische Ministerpräsident macht keine Politik, er führt nur die Beschlüsse des Parteipräsidiums durch.Und die 13 Mann, die dieses Präsidium bilden, sind ja dieselben geblieben. Der ganze Lebensweg Bulganins beweist auch, daß er keine Neigung zum Diktator hat. Dazu ist er viel zu diszipliniert. Doch die Verwaltungsmaschine wird unter seinen erfahrenen und festen Händen besser laufen. In die Grundanschauungen der sowjetischen Außenpolitik wird er wohl nichts Neues bringen, wohl aber vielleicht in ihren Stil. Er ist innerlich sicherer als Malenkow. Und darum wird er wohl dem müden Molotow :eine Person mehr als Instrument der Außenpolitik zur Verfügung stellen als der von seiner Unsicherheit gehetzte Malenkow. Das wird diese Außenpolitik fester und ruhiger erscheinen lassen und den russisch-nationalen Zug stärker hervortreten lassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung