Ein Mensch guten Willens

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Jimmy Carters Gedichte erweisen sich als Schlüssel zur Persönlichkeit des ehemaligen US-Präsidenten, von dem man in Zeiten wie diesen nur träumen kann.

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Jimmy Carters Gedichte erweisen sich als Schlüssel zur Persönlichkeit des ehemaligen US-Präsidenten, von dem man in Zeiten wie diesen nur träumen kann.

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Da beschreibt einer, wie das war, als er zum ersten Mal mit Dichtung konfrontiert wurde. Mit poetry - in einer Gegend, wo derart luxuriöse Hervorbringungen rar sind, in einer Ortschaft namens Plains. Sonst ist man dort eher mit dem beschäftigt, was die Erde hergibt, Baumwolle, Erdnüsse. Aber da sind auf einmal diese Freaks, "itinerant songsters" nennt Jimmy Carter sie, fahrende Sänger heißt es in der Übersetzung, das klingt eher nach Mittelalter, aber in jener guten alten Zeit hat es in der Gegend, in der dieser junge Mann in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts aufwächst, nur Indianer gegeben. Die poems oder song-lyrics, die jene fahrenden Dichter mit und ohne Gitarrenbegleitung vortragen, "taught us", schreibt er, "how to look und maybe laugh / at what we were and felt and thought". So einfach ist das: Das ansehen, was wir sind und fühlen und denken und vielleicht manchmal darüber lachen. Das möglichst genau ansehen und zu Papier bringen: Ein gutes Rezept zum Schreiben.

Poetry kann einfach sein

Poetry - im amerikanischen Englisch klingt dieses Wort nicht unbedingt nach Hochkultur. Dichtung - das kann etwas recht Einfaches sein. Man kann es lernen wie andere Fertigkeiten. Natürlich kann es auch etwas ganz Großartiges werden, es soll Leute geben, die es auf sehr hohem Niveau betrieben haben oder betreiben. Aber von denen weiß der junge Mann vorläufig nichts, er setzt sich hin und bringt, so schreibt er, seine ersten, holprigen Zeilen zu Papier, "fumbling lines", in denen er sich und der Welt existenzielle Fragen stellt, über in irgendeiner Ferne hungernde Kinder zum Beispiel und über die perverse Lust, die manche Menschen für die Angst und den Tod empfinden, den "thrill" des Krieges. Man merkt schon: dieser junge Mann ist ein Idealist, ein heranwachsender Gutmensch, würden die auf den Zeitgeistwellen von heute surfenden Realisten unserer schönen, neuen Welt sagen, Idioten, die sich einbilden, auf jemanden wie diesen Jimmy herablächeln zu dürfen, und aus heutiger Sicht betrachtet ist der ja wirklich ein sehr anachronistischer Typ.

Bewusst schlicht

Seine Gedichte werden allerdings besser, auch wenn sie bewusst schlicht bleiben. Er hat Erkenntnisse, auf deren Basis auch weit größere Poeten gut gearbeitet haben.

Von den Gedichten, schreibt Carter, habe er gelernt, dass Kunst besonders glaubhaft aus scheinbar kunstlosen Dingen kommen kann und dass Geheimnisse am ehesten erforscht und verstanden werden, wenn sie ganz einfach und frei aus Geist und Herz entspringen. Okay - Herz sagt man in unserer europäischen Dichtung schon lang nicht mehr, ohne sich lächerlich zu machen, und von Geist kann und darf folglich selten die Rede sein, aber die vier Zeilen, in denen das steht, könnten durchaus auch von einem der Klassiker der amerikanischen Moderne stammen - William Carlos Williams käme dafür durchaus in Frage, ein Mann, der zweifellos Pionierarbeit für die us-amerikanische Dichtung geleistet hat, auch wenn er seinen Brotberuf (den eines Landarztes) nie aufgeben wollte.

Der Autor der 1995 unter dem Titel "Always a Reckoning" erschienenen Gedichte hatte übrigens auch einen Brotberuf. Er war zuerst Farmer und dann Präsident der Vereinigten Staaten. Die schwarze Landarbeiterin Rachel Clark, die ihm als Kind viel bedeutete und die er als Erwachsener noch manchmal besucht hat, habe ihm, so schreibt er im ersten der nunmehr unter dem Titel "Angesichts der Leere" zweisprachig erschienenen Gedichte, manchmal gesagt, was er ihrer Ansicht nach tun sollte, dort in Washington, wo er, wie er mit ironischem Understatement bemerkt, damals gerade gearbeitet hat. "In Washington / were I was working than" - in Zeilen wie diesen ist seine Schlichtheit tatsächlich auch eine literarische Tugend.

Gewiss strickt Carter nach ziemlich einfachen Mustern. Trotzdem ist er formbewusster, als es bei der bloßen Lektüre der deutschen Übertragung scheinen mag. Diese will keine Nachdichtung sein, der Versuch, den Tonfall und den gelegentlichen Endreim der Texte ans Ufer der anderen Sprache zu bringen, wird nicht unternommen. Was vorliegt, ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Carters politischer und menschlicher Haltung in einem Seminar an der Universität Dortmund, 28 Studentinnen und Studenten waren daran beteiligt, Walter Grünzweig und Wolfgang Niehues haben die im Rahmen dieses Projekts entstandenen Texte überarbeitet.

Die Teilnehmer, heißt es im Nachwort, erkannten sehr schnell, dass ihnen mit Carters Lyrik ein Schlüssel zum Werk und zur Persönlichkeit des 39. Präsidenten der Vereinigten Staaten gegeben wurde. Eines Präsidenten, von dem man, so politisch unbedarft er manchmal dargestellt wird, in Zeiten wie denen, in die wir inzwischen geraten sind, nur mehr träumen kann. Eines Mannes, der sich für Menschen interessiert ("People": so heißt bezeichnender Weise gleich der erste Abschnitt des Bandes). Eines bewusst bescheidenen Nachdenkers, der ein deutlich human orientiertes Geschichtsbewusstsein hat und mit spürbarem Mitgefühl gerade die Geschichten kleiner Leute zu evozieren weiß.

Wie Geschichten

Stimmt, es sind im wesentlichen Geschichten, die hier erzählt werden, es handelt sich nicht um Lyrik im engeren Sinn. Carters Texte sind manchmal notathafte, manchmal balladenartige Darstellungen des Zusammenhangs zwischen dem kleinen Leben und den großen Ereignissen, geschrieben mit einem vielleicht naiven, aber sympathischen Problembewusstsein. Auch an Reflexionen über den Sinn des Ganzen wagt sich Carter: Gedankenlyrik, eine Disziplin, auf die sich so mancher viel professionellere Autor gar nicht mehr einlässt.

Bei aller Allergie gegen die Art von Patriotismus und Religiosität, die ab und zu auch zwischen solchen Zeilen durchschlägt, ein Patriotismus und eine Religiosität, auf die man diesseits des Atlantik nicht zu Unrecht allergisch ist - man kann die Dokumente, als die man Carters Arbeiten zu allererst auffassen sollte, auch als literarisch interessierter Mensch mit Sympathie und Respekt lesen.

Angesichts der Leere

Gedichte von Jimmy Carter

Englisch/Deutsch. Übersetzt von Walter Grünzweig und Wolfgang Niehues

Weidle Verlag, Bonn 2005

120 Seiten, geb., e 21,60

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