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Ein neues Schlafmittel

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Kaum rollt dieser Stern, auf dem wir leben, mit seinen Dschungeln, Tankstellen und Philatelistenkongressen in den Schatten, so schließen sich die Blumenkelche, die Vögel stecken den Schnabel unter den Flügel, und auch die sonstigen Lebewesen rollen sich irgendwie zusammen und verlieren das Bewußtsein. Dieser tolle Vorgang vollzieht sich jeden Abend. Alles liegt in der süßen Narkose, alles schläft; sogar die Winde sind still geworden, und die Ozeandünung schaukelt schläfrig ihre silbernen Sternenbilder. Alles schläft, aber nur der Mensch kann nicht schlafen, weil er tagsüber zuviel telephoniert hat. Seitdem er das Unbewußte entdeckt hat, kann er nicht mehr ins Unbewußte versinken, denn es weicht, die Träume unterm Mantel bergend, scheu vor ihm zurück, weil es nicht analysiert werden will... Verfluchtes Bewußtsein, so geh doch endlich! Und neidvoll blicken wir nachts auf die Autos am Trottoir — wie sie so sanft ruhen!' Regungslos gleich den Pflastersteinen, auf denen sie mit weichem Pneu 'liegen, träumen sie von den Millionen Pflastersteinen, über die sie noch rollen werden. Also stellen wir Glasretorten auf und brauen uns mit schärfster Bewußtheit einen chemischen Schlaf zusammen, den wir sogar ziemlich vorteilhaft verkaufen: Ein Dutzend Tabletten Unbewußtheit! Garantiert unschädlich! — Doch wenn etwas garantiert unschädlich ist, dann wird es schon schädlich sein, darauf kannst du Gift nehmen. Diese Tabletten schenken uns den täglichen kleinen Tod des Schlafes, aber nimmst du aus Zerstreutheit oder aus Melancholie die sechsfache Dosis, so kann es auch der große Tod mit Hippe und Stundenglas sein. Ach, der chemische Schlaf ist nicht der rechte, denn er zerstört unweigerlich deine natürliche Schlaffähigkeit: du schläfst auf Borg, und einmal mußt du es bezahlen. Si ist schon der Mensch: auf der Autobahn nickt er ein, aber im Bett erwachen seine Nerven. Erst mit der Dunkelheit beginnt in den Krankenhäusern das Stöhnen.

Das Bett ist nicht daran schuld. Still steht es da, dieses Mittelding zwischen Sarg und Mutterleib, und möchte dich so gern ins Unbewußte einlullen. Wie wird es vom Schlaflosen zerwälzt und gescholten, aber wie sehnt man sich nach demselben Bett nachts, wenn es regnet, im Schützengraben! Das Bett ist eine alte Kinderfrau, die alles von uns weiß. In ihm wurden wir empfangen, kamen zur Welt, in ihm feiern wir immer wieder Entschlafen und Auferstehen, in ihm werden wir einmal sterben. Still hält das Bett, dieser Wagon-Lits des Traumexpresses, an der Station „Schlafzimmer“, um uns in unbekannte Welten zu entführen — durch den dunklen Tunnel der Unbewußtheit hinaus in die Sonnenländer jenseits von Zeit und Raum. Daunen, Flaum, Traum, Schaum, Weltenraum... Nein, das Bett ist nicht daran schuld.

Dann liegt der Mensch wach da und versucht zu zählen. Ein richtiger Instinkt, denn die repetierte Quantität ist ja der Inbegriff des Geistlosen und Einschläfernden. Er macht sich eine künstliche Zahlenstraße und hofft, daß hinter Kilometerstein 241 der kleine Tod lauert. Oder er beginnt Schafe zu zählen; vielleicht auch deshalb, weil sie so sanft und dumm sind. Denn zählte man Klapperschlangen oder Blitzschläge, so wäre an Schlaf erst recht nicht zu denken. Manchmal läßt der Schlaflose die Schafe über eine Hürde springen: wohl um sich die Zählarbeit zu erleichtern, denn man muß auch in der Phantasie praktisch sein. Oder er macht Licht, nimmt einen Roman vom Nachttisch und zündet sich dazu womöglich eine Zigarette an. Nach dieser doppelten Entweihung des Bettes hofft er, daß der Schlaf auf Seite 56 kommen werde. Aber dann nimmt er schließlich doch Tabletten und läßt nun diese über die Hürde seiner Zäune springen. Allein dieser Schlaf kommt nicht als Freund, sondern als ein gekaufter Sklave, der dir mürrisch mit dem Hammer eins auf den Kopf gibt.

Das andere Mittel ist, zum Einschlafen die Phantasie spielen zu lassen. Kaum rührt die Wange ans Kopfkissen, so weben die Menschen schon an einem Ich-Roman, hoffend, daß die Schere des Schlafes den Ich-Roman mit einem „Fortsetzung folgt“ durchschneide. In diesem Roman tut der Mensch, was er in Wirklichkeit gerne täte: er taucht unters Wasser zu rosa Korallenriffen, gewinnt im Roulette, bestraft seinen Vorgesetzten, heiratet den schönsten Filmstar, erfindet den Wassermotor, unterhält sich mit Goethe, oder führt — an demselben Vorgesetzten — „the perfect crime“ aus: kurz, er führt ungefähr das aus, was ihm das Kino am Tage vorgeführt hat. Doch das mit der Phantasie hat seine Gefahren, wenn man nämlich zuviel von ihr besitzt: dann erscheinen sie ungerufen, die hypnagogischen Gestalten, mit Fledermausflügeln, mit Rüsseln, mit rollenden Augen, und umstehen dich wie ein Konsilium das Krankenbett... schnell die Tabletten her! Und es gibt auch das: daß man zu müde ist, um einzuschlafen. Denn selbst zu dieser Metamorphose, den Telephonierer in einen Sack Kartoffeln zu verwandeln, gehört immer noch Kraft. Oh, das unschuldige Bett wird dann zu einer Daunenhölle — wie ein Wurm auf dem Haken des Bewußtseins ringelt man sich und bettelt um Nichtsein.

Nun möchte ich der leidenden Menschheit ein neues Schlafmittel vorschlagen, das sich von den bisherigen höchst listig unterscheidet. Ich gehe dabei von der Erfahrung aus, daß man einen Menschen zwar wachrütteln kann, aber keineswegs in Schlaf rütteln — höchstens sanft in. Schlaf wiegen, doch dann muß es schon ein ganz kleines Menschchen sein. Kurz, Wachsein ist eine Sache des Willens, aber in Schlaf fallen kann man nicht durch Willen allein. Zudem entsann ich mich, daß es eine Schule in der Medizin gab, die alles durch den Gegensatz heilen wollte. — So geht mein Vorschlag dahin, sich den Schlaf nicht durch Beruhigungs- oder Betäubungsmittel zu verschaffen, sondern im Gegenteil durch Aufmunterungstablet-t e n. Das klingt freilich paradox.

Ich rate dem chemischen Schläfer, seine Tabletten heute Abend nicht einzunehmen. Er wird dann, sagen wir bis 4 Uhr, wachbleiben, und um 7 schrillt der Wecker. Stehe dennoch um 7 Uhr auf (denn zu dieser Kur gehört Regelmäßigkeit) — obwohl noch müde, übernächtig und verzweifelt. Gehe trotzdem an dein Tagewerk und rüttle dich, jedesmal, wenn die Schläfrigkeit heranschleichen will, mit Colatabletten, Traubenzucker oder Vitaminen auf. Den ganzen Tag hindurch, denn es ist immer noch besser, daß du den Willen zum Wachsein anfeuerst, als Abends deine Nerven mit chemischem Schlaf betäuben. Auch mache man, trotz der Müdigkeit einen zweistündigen Spaziergang. Nimmst du diesen zweiten Abend wieder kein Schlafmittel, so wird jetzt der Schlaf vielleicht nicht erst um 4 Uhr, sondern schon um 2 Uhr kommen. Stehe gleichfalls um 7 Uhr auf, trotz der wütenden Proteste deines Herrn Körpers, und nimm wiederum, sobald die Schläfrigkeit kommen will, ein wenig Traubenzucker. Und gehe dennoch und justament und nun gerade deine zwei Stunden spazieren! Und ich möchte wetten, daß nach einer Woche dieses Regimes der abendliche Schlaf pünktlich zur Stelle ist. Hörst du dabei allmählich auch mit dem Traubenzucker auf (weil er immer weniger vonnöten ist) — so stehst du plötzlich als munterer Normalschläfer da.

Der Witz besteht also darin, daß man tagsüber den Schlaf wie einen grimmigen Feind verscheucht, damit er dann abends von selber kommt als sanfter Freund. Denn, daß man den Willen zum Wachsein mit Stärkungsmittel unterstützt (schließlich bedeutet jedes Essen ein Stärkungsmittel), ist lange nicht so unnatürlich,wie daß man den Schlaf, den man ja gleich der Liebe nicht zwingen darf, dennoch chemisch zu zwingen sucht. Und dem falschen Schlaf entspricht selbstverständlich ein falsches Wachsein. Denn alle diese heftigen Telephonierer handeln, rauchen, gestikulieren und disputieren ja eigentlich im tiefsten Schlaf. Komisch ist bloß, daß sie sich für wach halten.

Doch hier muß ich bekennen, daß ich dieses famose Schlafmittel, diese Heilmethode aus dem Gegensatz bei mir noch nie angewandt habe. Ich habe sie mir bloß ausgedacht. Denn ich selber bin abends nach fünf Minuten regelmäßig hinüber und kann auch sonst jederzeit einschlafen, — falls nur mein Körper jene suggestive horizontale Brezelstellung einnimmt, die den Sandmann lächelnd herantrippeln macht.

Aber vielleicht versucht einer der geschätzten Leser die neue Methode. Garantiert unschädlich!

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