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Ein Paradoxon

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Die Rechtsfindung in den großen antinazistischen Prozessen hat mit der kuriosen Gegensätzlichkeit zweier Gegebenheiten zu rechnen: dem Höchstwahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen. Jeder der Angeklagten, ob nun der Schauplatz der Prozesse bisher Paris, Nürnberg, Wien oder irgend eine andere Hauptstadt war, erscheint vom ersten Tage an in einer scharf profilierten Rolle. Die öffentliche Meinung ist über ihn schon zu Gericht gesessen. Sie hält es mindestens nach allem, was man über diesen längst ins scharfe Rampenlicht gerückten Mann weiß, für höchstwahrscheinlich, wenn nicht schon für ganz sicher, daß er schuldig ist. Die Geschicklichkeit der Verteidiger kann daran wenig ändern. Sie umtost der Widerspruch der öffentlichen Meinung: schuldig, schuldig! — Das' andere ist das Unwahrscheinliche der behaupteten Tatbestände, die immer wieder in vielen dieser Prozesse geltend gemacht werden. Erst in seiner letzten Aussage versicherte Herr von Papen als Angeklagter, er habe von den ungeheuerlichen Vorgängen in den KZ-Lagern nichts gewußt. Gebrauchen ausnahmslos alle die in Nürnberg Angeklagten, die dasselbe von sich behaupteten, nur eine Ausrede oder kann diese Verantwortung bei dem einen oder andern richtig sein? Es ist wahrlich nicht unsere Sadie, für den oder jenen diese letztere Möglichkeit zu bejahen. Aber es gehört zu dem System, um dessen Vernichtung es sich handelt, eines der infamsten Mittel seiner Behauptung: das erpreßte Geheimnis. Um die Vorgänge in den Lagern war jahrelang ein undurchdringlicher Vorhang gezogen. Nur flüsternd, hinter verschlossenen Türen wagten Wissende von den Geschehnissen hinter dem Vorhang zu erzählen. Jeder, der aus dem Konzentrationslager entlassen werden sollte, mußte zuvor eine Erklärung abgeben, daß er niemals, auch nicht im amtlichen Verhör, selbst nicht unter Eid vor dem Richter, über Geschehnisse in den Lagern aussagen dürfe. Auf Verletzung dieser Sdiweigepflicht stand die Strafe neuerlicher Verbringung in das Lager — Todesgefahr. — Dachauer Gefangene, die ein höherer Beamter der Gestapo im Münchener Wittelsbacher Palais verhörte, ein alter Herr von sichtlichem Wohlwollen — auch dieses Wunder gab es —, mußten sich selbst vor dieser Gestapo-Instanz auf das strenge Geheimnis berufen, als sie befragt wurden, ob es wirklich wahr wäre, was man von „harter Behandlung in Dachau“ munkeln höre. Den nicht selten zur Lagerbesichtigung ersdiienenen Besuchergruppen von politischen Funktionären und Akademikern der SS-Schulungskurse war es untersagt, Häftlinge anzusprechen. Mancher tat es doch verstohlen mit der Frage: „Wie geht es euch? Ist es wahr . . .?“ Keiner, auch wenn er vielleicht aus beunruhigtem Gewissen heraus fragte, hat eine Antwort bekommen, denn niemand wußte, ob es nicht doch eine Fangfrage war. Ein österreichischer Priester, der doch — nach seiner ersten Befreiung aus dem Lager — redete, hat es wie so mancher andere mit dem Tode gebüßt, Der Generalstaatsanwalt Dr. Welsch, der ein Gentleman war — er war nach Wien geschickt worden, angeblich zur Betreuung der Interessen der Gefangenen, in Wahrheit, um die Klagen der unglücklichen Familienangehörigen der in die KZ Verschleppten in völliger Hilflosigkeit anzuhören, pflegte noch 1939/40 aus der Gefangenschaft zurückkommende Wiener zu bitten, sie sollten ihm doch reinen Wein einschenken über ihre Erlebnisse. Das Spärliche, das er erfuhr, hat den rechtlichen Mann veranlaßt, 1940 die Enthebung von seinem Amte mit Erfolg zu betreiben. Es ist langsam genug in die Öffentlichkeit hinausgesickert, nie mit nadiweisbarer Zeugenschaft belegt, weil sich die Zeugen hüteten, ein furchtbares, sich verdichtendes Gerückt preiszugeben, so barbarisch, daß viele, der Beweismittel bar, es nicht glauben wollten. Noch heute, da Dokumente, viele Tausende lebender Zeugen und der Tod von Hunderttausenden von dem Grauen ' der wirklichen Geschehnisse sprechen, hört man nicht selten die Frage: „Ist es wirklich wahr . . .?“ — So mag es nicht absolut von der Hand zu weisen sein, daß einzelne Männer in großen Stellungen des Dritten Reiches, zumal wenn sie im Ausland lebten, sich mit dem Worte beruhigten: „Gerüchte“ und nichts wußten.

Dieses Nichtwissen erledigt nicht alles. Aber die Macht, die mit diesem Geheimnis ausgeübt wurde, wird für immer ein Gradmesser der blutigen Tyrannei, bleiben, die über den Regionen der Hitlerdespotie lastete.

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