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Ein sdiwerer Gang

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Nach einer schweren Verwundung wieder halbwegs genesen, entläßt mich der Stabsarzt nach langem Lazarettaufenthalt in den Genesungsurlaub. Ich will hinaus in die Natur und hinauf in meine Berge, um dort wieder Frische und Spannkraft zu finden. Und dabei entsinne ich mich eines Auftrages, der wie ein stummer Befehl schon seit einem Jahr in meiner Seele steht, und ich höre wieder die letzten Worte meines Kameraden, der beim letzten Stoßtruppunternehmen fiel: „Bring' den Brief hoam meiner Muatta!“

Schon stundenlang steige ich an den steilen Berghängen empor. Schwer ist der Aufstieg, und müde macht mich der Pfad, da ich erst wieder Kräfte sammeln muß, doch leicht ist mir dieser Weg der Pflicht. Ringsum wiegen sich blütenschwere Zweige im kühlen Morgenwind. Tief unten liegt die letzte geschlossene Talsiedlung. Ich überhole ein Eselsgespann, das langsam zu irgendeiner Hütte Lebensmittel emporträgt. Hinterdrein zwei kräftige Jungbauern mit schwerem Rucksack und Gepäck in den Händen, daß schier ihre jungen Körper niedergeduckt am Boden, Schritt für Schritt dahinschwanken. Als sie mein staunender Blick trifft, ruft mich der älteste lachend an: „Grüß' di Kanonier, i bin a Oberjoaga. I frei mi, üba die Wocha bin i scho dahoäm auf Urlaub. Und bei dir scheint's a sowas z'sein. Auf jedn Fall, grüß' di in dö Berg!“

Nach langem Wandern stehe ich auf einmal vor einem Bergbauernhof, windgeschützt und wuchtig hingebaut an die Lehne, stark verwurzelt im Boden und in der Landschaft. Die Ahn sitzt beim surrenden Spinnrad und um ihren Schoß drängen sich viele Enkel und betteln um Brot. Sie macht still ein altes Zeichen über den Laib und gibt runde Scheiben den Hungrigen. Damit geben sie sich eine Weile zufrieden. Dann erzählt sie den Kleinen Märchen. Ich bleibe stehen und horche auf den tiefen Sinn ihrer einfachen Worte. Da sieht sie den ungewünschten Lauscher und Soldaten und ruft mich in den Kreis der neugierigen Jugend. Die jungen Gesichter bestürmen mich mit vielen Fragen und ich muß ihnen lange, wenn auch mit Widerwillen vom Krieg hier im Frieden der Berge erzählen, da auch Väter und Brüder draußen an den Fronten als Grenadiere stehen. Der Großvater trägt in einem Korb am Rücken frischen Dung auf steilen Hängen zum kargen Acker für die kommende Saat hinauf. Oft bleibt er müde stehen und wischt sich den Schweiß von seiner runzeligen Stirn. Es geht halt mit 70 Jahren doch nicht mehr so gut. Aber es muß sein, da er die wehrfähigen Männer ersetzen muß, die unter den Waffen stehen. Wie es geht, danach fragt ja niemand. Und so liegt auf der Bauersfrau, dem Altbauern und vor allem auf den Jugendlichen die ganze Last der Arbeit. Hier stehen Bauern auf kargen Böden, Bergbauern mit ungenügender Ackergröße, auf nährstoff armen Grundstücken in verkehrsentlegenen und klimatisch nicht begünstigten Gebieten. Seit Hunderten von Jahren sitzen sie hier am Boden und halten ihn verbissen gegen unvorstellbare Naturgewalten und — in den letzten hundert Jahren — gegen große wirtschaftliche Bedrängnisse. Da kommt vom Hang herauf Stimmengewirr. Langsam stapfen durch das junge Grün der Almen mehrere Gestalten herauf, gehüllt in Trauerkleider. Schwer, breit und einsam ist dieser Gang, Wuchtig das Bild der Berge ringsum. Die Bäuerin kommt mit dem Gesinde vom Friedhof her, wo sie eben den Urgroßvater begraben haben. Wie sie den Soldaten sieht, kommt sie auf mich zu und gibt mir die schwere Arbeitshand. Ernst und fragend ruhen ihre Blicke auf meiner Brust. Ich gebe ihr den letzten Brief ihres Sohnes, den er beim Herdfeuer bei seinem letzten Stoßtruppunternehmen geschrieben hat. Sie geht damit still in die Kammer. Dann bringt sie mir einen großen Briefumschlag. Ich kannte das Schreiben, das ein letztes Mahnen und Trost des Kompaniechefs beinhaltete: „Nun hat das unerbittliche Schicksal auch Ihren fünften Sohn gefordert. Ihr Michael ist bei einem' Stoßtruppunternehmen den Heldentod für Deutschland gefallen. Das „Deutsche Kreuz in Gold“, das ihm der Regimentskommandeur verliehen hat, soll Ihnen Kraft in Ihrem Schmerz sein.“

Ergriffen lese ich nochmals diese Zeilen und blicke dieser schwergeprüften Bäuerin in die Augen, die in Tränen stehen. Ich muß ihr von der letzten Stunde ihres Sohnes erzählen. Dann aber ist es mit ihrer Fassung vorüber. Auch ein Mutterherz ist nur ein menschlich Ding. Sie schluchzt laut auf, dann reißt sie plötzlich in einem Schmerzensausbruch ihr goldenes „Mutterkreuz“ vom Hals, schleudert es zu Boden und zertritt es. Ebenso zerfetzt sie den Brief des Kompaniechefs, dann fliegt die Botschaft von dem „Deutschen Kreuz irr Gold“ zerrissen und auf ein Knäuel zerdrückt in die Ecke zum Kamin. Darauf geht sie schluchzend abermals in die Kammer. Die Ahn hat zu spinnen aufgehört und wischt sich mit einem Zipfel ihrer blauen Schürze die nassen Augen trocken. Das surrende Spinnrad steht still und die kleinen Knirpse um die Alte sehen einander erschrocken an und lassen die Köpfe hangen. Und ich sitze zutiefst erschüttert, hilf lös wie ein kleines Kind da und starre entgeistert auf das am Boden liegende zertretene feine goldene Kettchen mit dem „Mutterkreuz“.

Ein unerträgliches Schweigen steht im Raum. Die Minuten tropfen wie Ewigkeiten. O dieser Krieg! Welch ein tiefes Symbol der ewigen Kraft unseres Bergbauerntums liegt in dieser einfadien Bäuerin! Welche Kraft gehört dazu fünf Söhne zu verlieren und das zu ertragen. Und von welchem Mut zeugte es, Auszeichnungen dieser Zeit solcherart, noch dazu in Gegenwart eines Fremden, zu behandeln.

Leise tickt die alte Kuckucksuhr und die Berge und Felsen stehen hoch und herrisch gegenüber und- blicken schweigsam und feierlich zum Fenster herein. Und ich verstehe plötzlich die Kraft und den Mut dieser Frau. Es kann gar nicht anders sein. Hier oben muß es herrische und starke Menschen geben, weil sie von Kindheit auf mit den Majestäten auf du und du stehen und weil sie unter grünen Domen wohnen und immer von Einsamkeit umspült sind. Langsam erhebe ich mich, um mich leise wie ein Dieb davon zu machen. Da erblickt mich die Ahn, steht rasch auf und nötigt mich wieder zu setzen. Das alles geschieht ohne eip Wort zu reden. In der Stube liegt die feierliche Stille einer Bergkapelle, durch die unsichtbar, aber fühlbar der Allmächtige rauscht. Selbst die Kinder sitzen ruhig auf der Bank beim großen Herd und wollen nicht mehr froh werden. Da kommt die Bäuerin aus der Kammer heraus und bringt Fleisch, Brot, Milch und Käse. Während sie sich Zu mir setzt, schiebt sie das alles vor mich hin und heißt mich tüchtig zugreifen. Dann erzählt sie mir: „Mei Bua, der Michl, woar der bravste und tüchtigste! S'woarn alle fünfe guate Kerln, aber der Michl woar unser Stolz.“ So sagt diese tapfere Frau. Hernach führt sie mich zur Anhöhe hinauf gegenüber dem steingemauerten Bergbauernhof.. Dort steht ein Gedenkstein auf einem hohen Grabhügel mit den Namen ihrer gefallenen Söhne. „So san's no bei uns, die Buam. Jahr und Tag, wenn ma da vorbei zur Oarbeit genga!“

Und ringsum liegt tiefes Schweigen nach diesen heiligen Worten, als wären sie vor vielen Jahrhunderten gesprochen worden; Bekenntnis zur Arbeit auf der Scholle und Totengedenken im Familiengrab am Hof liegen darin. Festgewurzelt steht unten der Hof da. Von ihm gehen die ewigen Unbesiegten aus. Als die weiten Schatten der Berge ins Tal fallen, steige ich hinab. In meinem Herzen trage ich das tiefe Erlebnis der Bergheimat mit.

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