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EIN SOMMERTAG

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Er wußte auch später nicht, was ihn an jenem Sommertag veranlaßt hatte, nach Odenthal zu fahren. Vielleicht war es nur eine vage Erinnerung, ein Gleichklang des Namens, irgend etwas, das in ihm gewesen war, jahrelang, jahrzehntelang, plötzlich war es wieder in seinem Denken aufgetaucht, war ein unausgesprochener Befehl geworden, dem er folgen mußte, und er fuhr nach Odenthal, einem kleinen Ort, abseits der üblichen Wege, zwischen den Bergen, doch nicht weit von der Stadt entfernt, in der er wohnte. Er fuhr mit der Eisenbahn; er hatte es lange nicht mehr getan, doch es war gut, nicht am Steuer eines Wagens sitzen zu müssen, sondern gefahren zu werden, behaglich zurückgelehnt, durchrüttelt, wenn die Bahn über die Gleise holperte, die vierzig oder fünfzig Kilometer weit dahinzogen.

Als er von der letzten Stufe auf den Sand sprang, war es, als falle er gegen eine heiße Wand. Es war eine andere Hitze als die in der Stadt, sie schien durchtränkt vom Duft unzähliger Blüten, frischer Erde und Klarheit. Ja, es war Sommer. Es war heiß, aber es war eine saubere Hitze. Er ging einfach hinter einem jungen Mann her; er wußte ja nicht, wohin er gehen sollte. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie die Lokomotive abgekuppelt wurde; nun mußte sie wohl den Zug aus dem zweigleisigen Bahnhof wieder hinausziehen, und eine Stunde später war sie in der großen Stadt, in dem großen Bahnhof, über dem immer der Lärm des Verkehrs lag. Hier war Stille. Vor einem der Häuser saß ein graubärtiger Alter auf einem Schemel und rauchte Pfeife, während Musik aus einem der kleinen, weitgeöffneten Fenster über ihm hinausdrang. Im Garten blühten vielfarbige Blumen, und über einem Himbeerstrauch summten Bienen.

Einen Augenblick lang blieb er vor einem anderen Gärten stehen, dann schritt er lächelnd weiter, dem Kirchturm zu, wie im Traum, zum ersten Male seit Jahren ohne Eile, ohne das Muß, zu bestimmter Stunde da oder dort sein zu müssen; es war wie ein Spiel mit nie zu vergeudender Zeit. Er hatte kaum Menschen gesehen, nur vor dem Rathaus standen ein paar Männer, die Hände auf dem Rücken, rauchend und plaudernd. Nun sah er auch die Läden, in deren Schaufenster sich die Sonne spiegelte. Er umwanderte langsam den großen Platz, den die Hauptstraße teilte, warf einen Blick in eine Buchhandlung, ein Kleider- gesohäft, einen Schuhladen, eine Greißlerei; ein Fleischhauer, ein Fenster hinter einer Zapfsäule, ging an anderen Läden der gegenüberliegenden Straßenseite vorbei und blieb im Schatten vor dem Rathaus stehen. Er sah in den Kasten mit dem Draht geflecht von Bekanntmachungen: zwei Heiratsanzeigen, die Anzeige einer Geburt, ein Hinweis, daß am kommenden Dienstag die Gemeindeversammlung stattfinden werde, und ein Beschluß über die Versteigerung eines Ackers im Hagen 7. Ein Motorrad tuckerte über das holprige Pflaster und bog in die Hauptstraße ein; er konnte nicht sehen, wohin sie führte; die Schilder waren verwittert. In einer anderen Straße spielten Kinder mit einem großen blauen Ball. Eine alte Frau, von einem Mädchen geführt, humpelte vorsichtig über den Gehsteig vor den Läden. — Er blieb noch ein paar Minuten im Schatten stehen; alles war so unwirklich, er mußte wieder lächeln, was wollte er hier?

Als er sich zur Seite wandte, sah er ein Wirtshausschild und die kleine Veranda mit den bunten Tischtüchern über kleinen, runden Tischen. Seltsamerweise verspürte er keine Müdigkeit, als er sich in einen Sessel fallen ließ. Er zog seinen Rock aus, hängte ihn über die Stuhllehne und grüßte zurück, als ihn eine junge Frau nach seinen Wünschen fragte. „Bringen Sie mir ein Glas Bier“, sagte er. „Und ein Wurstbrot, bitte!“ Er aß das Brot, trank das Glas leer, nahm es und ging durch die dämmerige Wirtsstube zur Theke. „Noch ein Glas Bier!“ sagte er. „Und ein Käsebrot. Darf ich das Telephonbuch haben?“ Er blätterte es durch, bis er Odenthal fand, und überflog die Namen, aber er fand keinen, den er kannte. Nun war er sicher, niemanden hier zu kennen. Und genauso sicher war er, daß er keinerlei Beziehung zu diesem Städtchen hatte. Nachdem er gegessen und getrunken hatte, bezahlte er und ging hinaus, den Rock leicht über die Schulter gehängt. Alle Spannung war von ihm abgefallen, und er fühlte sich leicht und beschwingt. Als er junge Leute sah, die zur Stadt hinausgingen, schritt er hinterher, bis er zu einem Sportplatz kam, auf dem ein Handballspiel im Gange war. Achtzig oder hundert Menschen umstanden hinter der einfachen Holzschranke den Rasenplatz. Er hatte keine Ahnung, ob es ein gutes Spiel war oder nicht, er klatschte mit, wenn ein Tor fiel, und konnte erst am Ende feststellen, welche die einheimische Mannschaft war, aber was lag schon daran ... ?

Er wanderte noch eine Stunde lang durch die Gassen, betrachtete die alten Häuser, die zum Teil noch Hausinschriften über den Türen hatten, ging durch die Kirche, und wanderte, nach einem Umweg, über ein paar Felder, wieder zum Rathausplatz. Langsam hatte die Hitze nachgelassen; es waren mehr Menschen auf den Straßen, die Tische und Stühle auf der Veranda des Wirtshauses waren besetzt. Er betrat die Wirtsstube mit dem braunen Gebälk und den Zinnkrügen auf den Regalen und bestellte sich eine Tasse Kaffee und Kuchen. Wie lange habe ich einen solchen unbeschwerten Tag nicht mehr erlebt, dachte er. Als er endlich erfuhr, daß nur noch ein Bus zur Hauptstadt fuhr, überkam ihn plötzlich die Sehnsucht nach dem kühlen Abend in diesem kleinen Ort. Er fragte nach einem Zimmer und hatte schon den Schlüssel in der Hand, ehe er sich entschließen konnte. Er ließ sich den Weg nach oben zeigen. Da? Zimmer war winzig klein, Blumen standen darin, ein breiter alteT Schrank, es war wie in den Tagen seiner Studienzeit in Heidelberg.

Als er wieder hinunterging, blieb er vor dem Telephon stehen. Eigentlich hätte er anrufen müssen, aber er zögerte, bis er sich entschloß, ein Telegramm nach Hause zu schicken. Er scheute die Fragen nach dem „Warum“ und „Wieso“ — dies war sein Tag. Sein Tag und seine einsame Nacht in einem kleinen Oft, sein Abend auf einer Bank hinter einem langen Holztisch, auf dem. ein Bierkrug stand, seine Nacht, die sich langsam und kühl herabsenkte, bis die Lichter hinter den kleinen Fenstern mit den Bauerngardinen aufflammten und er gelöst und frei noch einmal durch die Straßen ging, seine Nacht der Stille und einer Beglückung, wie er sie vielleicht so bewußt noch niemals verspürt hatte.

Als er einschlief, wußte er, daß er bald wieder zurückkommen würde. Es erschien ihm wie eine Heimkehr zu der Quelle seines Menschenseins, zu einer unendlichen Stille, die weder Fragen noch Antworten barg. Und das letzte Bild seines dämmerigen Wachseins glitt durch die weitgeöffneten Fenster zu der mondbestrahlten Säule der schlanken Kirche, deren Glockenschlag ihn ins Grenzenlose seiner Träume hinüberführte.

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