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Ein Sprachkünstler wider die Kultur im Dienste des Kaufmanns

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Karl Kraus, dieser an großen Würfen mit kleinen Vorwürfen vorbeischeltende Thersites, bewies, wenn er aus einer Mücke einen Elefanten machte, daß er ein Magier war — wer vollbrächte sonst derlei Zauberkunststück? —, und zwar einer des Wortes. „Ich bin bereit, dem kleinsten Anlaß zuviel Ehre zu erweisen, sobald mir dazu etwas einfällt“ und „ich betrachte es als mein unveräußerliches Recht, das kleinste Schmutzstäubchen, das mich berührt, in die Kunstform zu fassen, die mir beliebt“ (S. 287), heißt es in seinen beim Wort genommenen und die maulenden Kinder ihrer Zeitung beim Schopf nehmenden Gedanken.

Am meisten ist ihm als Kunstform der Aphorismus gemäß. „Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen“ (S. 117). Damit gesteht der Satiriker stolz seine Aehnlichkeit mit dem Karikaturisten. Beide übersteigern die photographisch festzuhaltende Wirklichkeit durch das Portrait-charge, an dem die entscheidenden Züge überstark betont sind und uns so das Wesen des Dargestellten eindrucksamer offenbaren als ein den Beschauer verwirrender Scheinrealismus. Eine zweite Uebereinstimmung zeigt der Satiriker, der Aphorist mit dem Schauspieler und dem Bühnenbildner, die ebenfalls auf plattes Kopieren der nicht nachahmbaren diesseitigen — und schon gar der nicht wahrnehmbaren jenseitigen — Welt verzichten, indem sie aus der Vielfalt der Eindrücke und der Ausdrucks-möglichkeiten die wesentlichen wählen. Kraus flicht dem Mimen Kränze, der beim Zuschauer dauernde Eindrücke weckt, durch die erst das Werk und das Wort des Dichters den rechten Kontakt mit den Angesprochenen gewinnt. Kraus war ja selbst nicht nur der begnadete Diener am Wort, das seine, des Zeitkritikers und Seelenkundigen Gedanken aussagte, sondern auch ein Schauspieler von hohem Rang, Interpret der eigenen und fremder Schöpfungen, die er durch Miene und Gebärde, durch seine einprägsame Stimme zu voller Wirkung aufrief.

Die Themen? Von geheuchelter Scham und frecher Schamlosigkeit freie Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die christliche und jede Moral, die Symbiose der Menschen, das Sondersein des Künstlers und dann, unserer Ansicht nach vor allem, die politische Gemeinschaft in ihrer örtlich und geschichtlich bedingten Eigenart, in ihrer Entartung und in ihren Unarten, im Vergleich mit einer von ihm nie beschriebenen idealen Ordnung. Als wenig beispielhafte Gegenstände, an denen sich immer wieder Zorn und Spott des Satirikers erproben, drängen sich auf: die zu demolierende Literatur der Nurkönner und der Nichtskönner, die Zeitung samt Preß- und Erpreßfreiheit, das Wien der letzten Tage der Menschheit — von denen Kraus instinktiv ahnte, daß ihnen lange Jahre der Unmenschheit folgen würden. Darüber ist in der Auswahl aus den Bänden „Sprüche und Widersprüche“, „Pro domo et mundo“, „Nachts“ zu lesen, die Heinrich Fischer jetzt unter dem Titel „Beim Wort genommen“ darbietet. Und dazu von der Psychoanalyse, „jener Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält“ (S. 3 51), von Freidenkern, in denen Kraus „Redakteure“ zu sehen glaubte, „die wie die Theaterkarten auch die Gedanken gratis bekommen, wenn sie bei der Direktion einreichen“, von der Diplomatie, dem „Schachspiel, bei dem die Völker matt gesetzt werden“ (S. 419), von der Sozialpolitik, dem „verzweifelten Entschluß, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen“ (S. 70).

Doch es wäre verfehlt, allzu nachdrücklich auf die Stoffe hinzuweisen, bekümmerten wir uns nicht, und zwar vornehmlich, um deren Gestaltung durch Karl Kraus. Als Aphoristiker sind ihm nur drei frühere ebenbürtig: Lichtenberg, Jean Paul, Nestroy; kein Zeitgenosse, kein Späterer hat ihn erreicht. Doch die Spuren der ihm Vorangegangenen sind in seinem Werk leicht zu entdecken, insbesondere die Nestroys. Trauert Kraus „Man lebt nicht einmal einmal“, dann denken wir an den Wiener Aristophanes, der vom Volk in tiefem, nur dem Kenner der Wiener Mundar verständlichen Doppclsinn äußert, es sei ein Volk und der einen seiner Raunzer schimpfen läßt: Kraut und

Rüben würfe man durcheinander wie Kraut und Rüben. Beide, Kraus und Nestroy, eröffnen den Zugang zu den Geheimnissen der zwiefachen und mehrfachen Bedeutung desselben Wortbildes. Ein anderes Mal spricht Kraus vom Vorurteil als dem unentbehrlichen Hausknecht, der lästige Ausdrücke von der Schwelle weist. Und Nestroy: meine Geduld nimmt Hut und Stock in die Hand, sie geht aus. Diesmal ergibt sich die Parallele aus der tragikomischen Verleihung des Abstrakten. Endlich: „Humanität ist das Waschweib der Gesellschaft, das ihre schmutzige Wäsche in Tränen auswindet“ und „Den Fortschritt vom Taygetos zum Brutapparat sieht jedes Kind“ (S. 229). Da erblicken wir vor uns nicht mehr geistige Abkunft, sondern geradezu Metempsychose. Ganz und nur er selbst ist aber Karl Kraus in Wunderwerken der Satire, die, indem sie des verhaßten Feindes gedankliche und sprachliche Un-gestalt parodiert, doch in jedem Satz sie selbst verbleibt, wie in der Phantasie über das Leitmotiv „Noch ist Polen nicht verloren“ (S. 395 ff.). Oder in den

Betrachtungen über die Umgangssprache, die „entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehen; wenn sie sie wie das Gesetz umgehen, wie den Feind umgehen; wenn sie umgehend antworten, ohne gefragt zu sein. Ich möchte mit ihr nicht Umgang haben; ich möchte von ihr Umgang nehmen, die mir tags wie ein Rad im Kopf umgeht; und nachts als Gespenst umgeht“ (S. 433). Oder in der Vision vom Wiener Leben (S. 264 ff.). Oder in dem Eigenlob, das gar wohl duftet: „Ich bitte niemand um Feuer. Ich will es keinem verdanken. In Leben, Liebe und Literatur nicht. Und rauche doch.“ Wogegen keine Beschwerde wegen Uebertretung des Rauchverbotes in der ersten literarischen Klasse, da nur mit Zustimmung aller Mitreisenden geraucht werden durfte, zu helfen vermochte. Reden Sie mit einem Vulkan.' Und schon gar mit Jem Poeten, der im Kritiker tmd Nörgler wohnt: mit dem Dichter, der nicht nur in seinen Versen Sprachkunst und ihn umhegende Natur zu holder Gemeinschaft heraufbeschwor, sondern der auch inmitten zürnender, höhnender Prosa, dem Leser unerwartet, von süßen Kindheiterinnerungen gefangen, von prächtigen Schmetterlingen umgaukelt wurde und der dann mit diesem unverlierbaren seligen Einst die bedrückende Gegenwart verglich. Der grüne Baum wird zum Papier, auf das die Maschine den Hexensabbat der Zeitchronik hinbannt. Und die Schmetterlinge müssen sterben, verderben, weil man ihnen die schützende Waldeinsamkeit raubte, die herrlichen Wiesen verbaute. So wütet der Fortschritt wider das Paradies der_ Kinder und der Tiere und der Pflanzen. Nicht anders treibt er es mit der Sprache: „Nur eine Sprache, die den Krebs hat, neigt zur Neubildung“ (S. 123) Kraus, dem weder die Neuheit noch die sich spreizende Bildung imponieren, solange sie nichts anderes bescheren als Neuheit und Bildung, ist ein Wortkünstler, der, obgleich ihm die faits divers aus seiner Zeit und aus seinem Raum zuströmen, obzwar er dem schöpferisch Neuen und def echten Humanitas nie sich verschließt, dem Ewig schönen, Ewigguten hudigt. Edle Absichf, die Wahrhaftigkeit gegenüber der jeweils gehegten Ansicht — nur Dummköpfe, Politiker und Philosophen betrachten die Unveränderlichkeit der Meinungen als Tugend —. das macht uns Kraus' in allen Sprachfragen und im Psychologischen untrügbares Urteil auch dann achtenswert, wenn es, wie seine Sexualmoral und, zeitweise, seine (ungewollt) politische Tätigkeit, bei uns Widerspruch herausfordert. Dank und Anerkennung ziemt dem angesehenen katholischen Münchener Verlag, der, über kleinliche Bedenken hinwegschreitend, nun das Werk Karl Kraus' in würdiger Obhut hat. Die Herausgabe einer, von Heinrich Fischer ausgezeichnet geleiteten Auswahl stellt übrigens das, vorläufig letzte Kapitel einer betrüblichen Nachkriegsgeschichte dar. Anno 1945 war Karl Kraus plötzlich modern und aktuell geworden. Es mangelte nicht viel, und er wäre nachträglich von denen, die ihm soviel nachzutragen gehabt hätten, wie von den andern, denen er nichts mehr vortragen konnte, gemeinsam zum literarischen Schutzpatron Neuösterreichs proklamiert worden. Es wimmelte von Verehrern, Jüngern Hnd Bewunderern, eine Kraus-Gesellschaft wurde gegründet und sogar die hohe Obrigkeit legte segnend ihre Hand auf das mit posthumem Lorbeer gekrönte Haupt einer niemals errichteten Kraus-Statue und sagte, wie der Polizeipräsident in den „Unüberwindlichen“: „Brav!“ Man versprach eine Ausgabe sämtlicher Werke unter der Aegide der Gemeinde Wien. Wir warten aber heute noch auf die Kommission, die über die vorbereitenden Schritte zur Aufstellung eines Programms der zu unternehmenden einleitenden Arbeiten Vorschläge unterbreiten soll. Inzwischen ist das in so zahlreichen Köpfen entfachte Strohfeuer der Begeisterung verglommen. Außer ein paar dieser Ehre Würdigen haben nur die, in ihrer Berufsarbeit durch Karl Kraus nicht mehr gestörten, ernsten (oder zeitgemäß heiteren) Männer der polyandrischen glänzenden Feder zum zwanzigsten Todestag des Großen, nun nicht mehr, draußen im Reiche Unbekannten ihren Schmerz und ihre Bewunderung ausgedrückt: die einen aus heuchlerischen Tränendrüsen, die anderen aus falschem Gemüt. Allein, dem Wort, das im Anfang war, ist keine Tat gefolgt. Die blieb dem Kösel-Verlag überlassen. Und so verbreitet sich der Ruhm des Unvergeßlichen, Unvergleichlichen — zur Schande derer, die sich eine Gelegenheit zu später Sühne entgehen ließen, von München her über den deutschen Sprachraum und über die gesamte wortkunstverständige Welt.

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