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Ein Tag des Zorns

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Domenico Pascarella kümmerte sich vorerst gar nicht um sein Volk. Mit drohenden Schritten, unheilvoll stiefelknarrend, durchmaß er die Sala da pranzo. Je länger er aber sein Sdiweigen ausdehnte, um so blasser wurden die Kinder. Sie verfielen zusehends. Papas Schweigen kam wie ein Welken über sie. Von Sekunde zu Sekunde wuchs das Schuldbewußtsein in ihnen wie eine spannende Geschwulst. Keinen verschonte es. Selbst wer von ihnen keine Ursache hatte, sich schuldig zu fühlen, wie Annunziata oder Iride, wurde von dem wachsenden Gewidit zu Boden gedrückt. Die Last des Gewissens machte sich unabhängig vom Nadidenken und Bewußtsein, sie verwandelte sich in einen schrecklichen Körperzustand, und dieser Zustand, dieses magenwürgende Übel war der absolute Gegensatz zu der mystischen Wonne von Papas Gesang. Endlich blieb Don Domenico stehn und rief Grazia scharf auf. Sie trat aus der Reihe der Geschwister ein Schrittchen vor. Das Gericht begann:

„Was für einen Auftrag hat dir dein Gesanglehrer gegeben?“ „Einen Auftrag?“

„Nur kein Herumgerede! Du hast mir etwas vom Maestro Capironi auszurichten gehabt.“ /

„Oh, das war ja erst gestern, Papa...“

Ihre Halsschlagader klopfte sichtbar:

„Der Signor Maestro wünscht dich zu sprechen.“

„Warum hast du mir das verschwiegen?“

„Ich wollte es nicht verschweigen, Papa. Ich habe nur geglaubt, es wird dich nicht sehr interessieren, Papa.“

„Also eine lügnerische Schlange bist du auch, du Engel?“

„Nein, ich lüge nicht. Es war doch nichts Wichtiges.“

„Nichts Wichtiges? Also scheint es doch ein Etwas zu sein und kein Nichts. Was ist es? Heraus damit!“

Fieberschnell prüfte Grazias Erinnerung die Gespräche mit ihrem Lehrer in der letzten Zeit. Sie fand nichts. Alles verwirrte sich:

„Ich weiß es nicht, Papa.“

„Du weißt es nicht? Dafür aber weiß ich es, du Schwindlerin! Er hat dir Rosinen in den Kopf gesetzt. Ihr verabredet euch skrupellos hinter meinem Rücken. Er will dich zum Theater bringen.“

„Das ist nicht wahr, Papa.“

Sie hob flehend die Hände. Nie hatte Capironi solche Dinge mit ihr gesprochen. Nie war ein Wort vom Theater gefallen. Warum auch? Sie hatte weder Talent noch Ehrgeiz. Sie dachte nicht im Traum daran. Ach, wie sollte sie nur dem Vater ihre Unschuld beweisen? Der aber zerstörte all ihre Beteuerungen mit einem Schlag:

„Ich hätte nicht von dir gedacht, daß du leugnen wirst. Schäm dich!“

Länger konnte sie ihre Tränen nicht beherrschen. Das Weinen, die Zerknirschung der Angeklagten verlieh dem Richter eine maßvolle Hoheit. Er gebrauchte kein Schimpfwort mehr. Auch seine Stimme klang ruhiger:

„Deine Gesangstunden habe ich gekündigt. Ein für allemal! Verstehst du?“

„Ja, Papa.“

Sie wollte verschwinden, untertauchen. Das Gericht aber gab sie nicht frei:

„Wir sind noch nicht fertig. Ist es wahr, daß du heute um neun Uhr vormittag bei offenem Fenster gesungen hast?“

„Nein ... ich habe... nicht gesungen ...“

Das Weinen zerriß ihre Verteidigung in kleine schluchzende Stückchen:

„Ich habe nur... ein bißchen geübt... ganz kurz...“

Eine Keule fuhr nieder:

„Aber bei offenem Fensterl Bist du so eitel? Hältst du dich gar für eine Künstlerin? Eh? Willst du die Straße bestrik-ken? Eh? Oder vielleicht die andern Mietparteien verjagen? Soll ich durch dich noch in Schande kommen? Wie oft habe ieh euch allen schon gesagt, bei offenen Fenstern und Türen hat nicht Klavier gespielt und gesungen zu werden! Antwortet mir! Habe ich es so angeordnet oder nicht?“

Ein dumpfes Chor-Ja schleppte sich zum Richter hin, der nun sein Urteil fällte.

„Du hast also gar keine Ausrede. Zur Strafe verbiete ich dir bis auf weiteres alles Singen. Auch in deinem Zimmer, ganz für dich allein, hast du nicht zu singen! Verstanden?“

„Ja, Papa.“

Der Blick des Richters ließ sie los und zog nun Lauro aus der Schar. Das Gesicht des Neunzehnjährigen mit den mädchenhaften Wangen war ruhiger als das seiner Geschwister, wenn auch fahl. Seine Augen in ihren Schattentiefen verrieten etwas anderes als Angst, aufmerksame Hingabe an das Fatum. Sie sahen den Richter unverwandt an und nahmen seinen Zorn beobachtend entgegen:

„Du weißt genau, was ich mit dir zu reden habe.“

„Ich glaube ja.“

„Was hast du gestern vormittag von zehn bis zwölf getan?“

„Ich habe die Schule geschwänzt.“

„Und warum schwänzt ein erwachsener Mensch, ein Gymnasiast im letzten Jahr, die Schule?“

„Es war ein schöner Tag.“

In diesem Freimut lag kein Ton von Frechheit. Er steigerte den Zorn des

Richters nicht, obgleich das Vergehen unentschuldigten Müßiggangs mitten im Alltag schwer genug war. Lauros äußeres Ebenmaß, sein stilles Verhalten, das Würde und Ergebenheit eigenartig verband, konnten den Richter nicht reizen. Es klang fast wie grimmiges Wohlwollen:

„Für deine nächsten Seefahrten, mein Junge, gedenke ich dir einen Sturm nachzuschicken.“

Diese Drohung hatte einen gleichnishaften Sinn, denn die Italiener gebrauchen für Seefahrten und Schuleschwänzen denselben Ausdruck: „marinare“. Der Urteilsspruch des Richters fiel nicht gar zu hart aus:

„Andere Leute in deinem Alter“, grollte er, „erhalten schon ihre Familie Drei Tage Zimmerarrest! Du rührst dich nicht vom Hause fort! Hast du mich verstanden?“

„Ja, Papa.“

„Und nun zu dir!“

Die Stimme des Richters krempelte gleichsam die Ärmel auf. Der kleingewachsene Ruggiero hatte sich bisher hinter dem Rücken seiner Geschwister gut verborgen. Die Stimme des Vaters aber fand ihn, ohne erst seinen Namen anzurufen:

„Hieher mit dir! Wird es? Vorwärts!'

Der Bär löste sich aus dem Haufen und schlenkerte sich mit den täppischen Armen seines Alters ein wenig vor. Keine Gnade:

„Vorwärts! Näher! Noch näher!“

Zwangsweise wurde der Abstand zwischen Ruggiero und dem Vater immer kleiner. Als er endlich klein genug war, begann das Gericht zum drittenmal:

„Ich habe bisher nicht gewußt, daß du ein ganz gewöhnlicher Straßenjunge bist, ein roher Prolet, der seinen Namen nicht verdient. Die ganze Welt wird jetzt frohlocken: Da sieht man, was die Familie Pascarella wert ist! Einer von ihnen, ein großer Bursche, ein Mann schon, wälzt sich um die heilige Mittagszeit und noch dazu vor den Toren einer Kirche mitten in der Stadt im Dreck! Ist das wahr?“

„Ich habe mich nicht gewälzt. Ich habe auch nicht Fußball gespielt. Wir haben nur so ein bißchen einen kleinen Gummiball...“

„Fußball gespielt?“ .

Die Frage donnerte gegen die Wände:

„Fußball gespielt? Ein schönes Spiel! Mit den Füßen spielen! Stoßen, Treten, Keuchen, Schwitzen! Lustbarkeit für Plebejer! Und mit wem hast du dich so vornehm vergnügt?“

„Kameraden ...“

„Jawohl, Kameraden! Niedriges Gesindel, zu dem du gehörst, zu dem es dich hinzieht!... Und nun, was hast du noch zu bekennen?“

„Tch? Ich ... ich weiß es nicht...“

„Ich rate dir gut, das Stottern zu lasset und so schnell wie möglicb alles einzu-gestehn.“

Der verzweifelte Mund des Knaben schnappte tonlos. Don Domenico zog ein Papier halb aus der Tasche. Da brach es mit Geheul aus Ruggiero:

„Ich, ich, ich habe mich einschreiben lassen.“

„Du hast dich einschreiben lassen. Schön! Nur weiter!“

„Ich habe doch müssen ... In die Partei... In die Avanguardia ... Wie die andern ... Wie alle ...“

„So?! Du hast mich betrügen müssen? Mich hintergehen müssen?“

„Es ist doch nicht anders möglich, Papa ... Die Partei... Die Lehrer ... Die Jungen ... Alle sind schon längst Faschisten ... Sie zwingen einen ... Ich habe ja kein Leben mehr gehabt...“

Das Gesicht des Richters näherte sich furchtbar dem Sünder:

„Wie, sie zwingen dich, mich zu hintergehen? Sie bekämpfen mich in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Familie? Und du bringst mich in diese schmähliche Situation? Du gibst dich dazu her, deinen Vater lächerlich zu machen? Hinterlistig läßt du dich einschreiben, ohne mir ein Wort zu sagen? Du läßt dich zum Verrat zwingen und glaubst nicht, daß ich dir helfen könnte und dich schützen? Vielleicht läßt du dich nächstens auch dazu zwingen, mir die Fenster einzuschlagen oder die Wohnung anzuzünden! Warum hast du mich hintergangen? Warum hast du kein Wort zu mir gesprochen?“

„Ich habe mich so gefürchtet...“

Domenico Pascarella aber brüllte auf:

„Für deine Feigheit, hier!“

Und zwei Ohrfeigen rechts und links klatschten in Ruggieros Gesicht, daß er bis zum Tisch taumelte.

Das grausame Strafgericht schien dem Richter selbst wehe zu tun. Denn wiederum durchmaß er mit stiefelknarrenden Schritten, qualvolles Schweigen verbreitend, die Sala da pranzo. Wenn ihn auch die Züchtigung Ruggieros reute — er schlug nicht gern —, so ging ihm doch sein eigenes Los viel näher. Da lebte er nur für seine Kinder. Keinen anderen Gedanken kannte er als sie. Er schützte sein Haus nach bestem Wissen und Gewissen. In fortgeschrittenem Alter arbeitete er noch. Warum? Damit sie ein sorglos standesgemäßes Leben führen konnten, damit das Haus bestellt sei. Und diese Kinder hintergingen ihnl Und diese Kinder waren Verräter! Verräter alle! Grazia betrog ihn mit Capironi, dem Musikvagabunden, und Ruggiero mit der Faschistischen Partei. Er war kein Gegner dieser Partei, sie war ihm völlig gleichgültig wie alle Politik, die man hinnahm, wie man die Welt hinnahm, in dem man ihr den Rücken zukehrte. Um so ungeheuerlicher aber, daß seine Kinder, seine Kinder ihn unreinen Träumen auslieferten, eitler Streberei und öffentlichem Krawall. Vor den eigenen Kindern mußte er sein Haus verteidigen. Durch heimliche Pforten schmuggelten sie tückisch die feindliche Welt herein. Und zum Dank nannte sie diese Welt höhnisch ihm ins Gesicht: Engel. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er an ihr Verrätertum dachte. Bald aber überwand die Empörung wieder seine Bitterkeit. Er durfte nicht dulden, daß sich die Moral der Familie lockere. Alle „Vordringlichkeiten“ waren erbarmungsloser zu bekämpfen denn je.

Die Zeit rückte weiter. Das Schweigen machte sie unerträglicher von Augenblick zu Augenblick. Don Domenico ging noch immer auf und ab. Da kam er auf einem der Umgänge dicht an Placido vorbei, der abseits von der zusammengedrängten Geschwistergruppe stand. Der Vater hemmte seinen Schritt und sah den Sohn an. Placidos Gestalt erschien ihm länger als früher. Der Student hielt die Fäuste gegen die Brust gepreßt und den Kopf tief gesenkt wie immer in leidensvollen Momenten. Seine Augenbrauen unter der schönen, aber niedrigen Stirn waren krampfhaft zusammengezogen. Beim Anblick dieses Gesichtes hätte man meinen können, Placido selbst sei gemaßregelt und gezüchtigt worden und nicht die Geschwister. Während Don Domenico seinen ältesten Sohn betrachtete, glaubte er in einer schweren Aufwallung erkennen zu müssen, daß in diesem Placido der Kern des Übels liege. Und nun war es wirklich Haß, was ihn durchzuckte. Er suchte nach Gründen gegen den Studenten. Ihm wurde aber nichts anderes bewußt als Placidos hohes Körpermaß, das ihm wie Auflehnung erschien. Und der kleine, rundliche Mann reckte die Fäuste empor wider den Sohn, der ihn überragte:

„Seid nur so groß, wie Ihr wollt.. .“

Es geschah ganz selten und dann auch nur in einem Augenblick der äußersten Verdammung, daß Papa eines seiner Kinder mit dem altertümlichen „Ihr“ ansprach. Dieses „Voi“ klang langgezogen gleich einem Trompetenstoß wie „Vooi“ und bedeutete ungefähr: „Du bist nicht wert, daß ich dich du nenne und damit zu den Meinen zähle. Ich zerreiße die Bande zwischen uns, ich stoße dich aus, ich verbanne dich an den Ort der letzten Sonnenferne. Erfriere oder kehre gebessert uml“ Placido hatte tatsächlich eiskalte Hände und Füße. Der Vater maß ihn noch immer:

„Nun! Was habt Ihr mir zu sagen?“

Placido sah stumm und mit zusammengebissenen Zähnen seitwärts auf den Fußboden. Don Domenico aber drohte dunkel:

„Zwischen uns wird es so nicht weiter gehn.“

Er gab sich keine Rechenschaft über diese Worte, zu denen kein Grund vorlag, und die aus dem unbewachten Abgrund seiner selbst aufgestiegen waren. Dann ließ er Placido stehn und nahm wieder seine knarrende Wanderung auf. Mittlerweile war es vielleicht schon zwei Uhr geworden. Im Türspalt gestikulierte der Arm Priscillas, der Köchin.

Endlich wagte Annunziata eine leise Mahnung:

„Papa, darf das Essen aufgetragen werden?“

Der Vater stampfte auf, als treffe ihn in dieser Frage ein frecher Hohn:

„Und du glaubst wirklich, ich werde mit euch essen, ich werde mich mit euch an denselbsn Tisch setzen? Esset nur, wenn ihr könnt!“

Und an Annunziata erging der Befehl:

„Du darfst mir Giuseppe mit einer Kleinigkeit hinaufschicken.“

Er schlug die erste 'ür gewaltig zu, die zweite, die dritte. Als er aber oben in seinen beiden Zimmern mit den Türen warf, an Möbel stieß, Stühle rückte und dumpfen Lärm verursachte, da grollte es zu Häupten der Geschwister wie ferner Donner.

(Aus dem Roman „Die Geschwister von Neapel“. Mit Bewilligung des S.-Fischer-Ver-lages.)

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