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Ein Vogel, ausgesandt, durchs Fegefeuer zu fliegen...

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Zur österreichischen Erstaufführung von T. S. E I i o t s „Der Familientag“

In seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe des Schauspiels „The Family Reunion“ sagt Peter S u h r k a m p, der das Werk gemeinsam mit Rudolf Alexander Schröder ins Deutsche übertragen hat: „Das antike Dramenmodell, soweit es rein klassisch ist, schließt nicht das Geschehen selbst ein, sondern das Drama ist eine Episode, kürzere oder längere Zeit nach dem Geschehen; so wie ein Prozeß vor Gericht einige Zeit nach dem Verbrechen oder dem Unfall stattfindet. Und wie es die Aufgabe des Prozesses ist, Dunkelheiten in einem Geschehen aufzuklären, so ist die Funktion des antiken Dramas, Dunkelheiten in einem zurückliegenden Ereignis, das bis in die Gegenwart wirkt,

aufzuklären Das bedeutet: das Geschehen

kommt nur mehr im Wort vor, in Bericht und Aussage, und das Bemühen geht um Aufklärung und nicht um dramatische Lebendigkeit.“

Wenn damit auch nur eine Seite der Funktion des antiken Dramas gezeigt ist, so ist sie doch gerade in einem Wort zum „Familientag“ erwähnenswert, weil T. S. Eliot in seinem zweiteiligen Drama einen Moment, in dem „die Zeiten sich in-einanderschlingen“, herausgreift, um „Verborgenes zu enthüllen“, nicht als „eine Detektivgeschichte von Verbrechen und Strafe“, sondern als ein Mysterium von Sünde und Sühne.

Es sind, grob gesprochen, drei Schichten der menschlichen Existenz, die der Dichter in diesem Schauspiel, vielleicht noch deutlicher als in der „Cocktail Party“, in einer Art tiefenpsychologischer Deutung aufdeckt. Zunächst tritt uns der periphere Konventionalismus einer englischen Adelsgesellschaft unserer Tage und ihrer Menschen entgegen, die ihr falsches Sekuritätsgefühl, das sie jedes sich hintergründig Ereignende behend in eine faßbare Faktizität umdeuten läßt, mühsam abzudichten sucht gegen eine aus ihrem Unterbewußt-

sein hervorbrechende zweite Erlebnisschicht, die sie verwirrt und beunruhigt. Dieses tiefere Wissen wird im Chorus ausgesprochen, der nicht, wie in der Antike, den Akteuren gegenübersteht, sondern sich aus ihnen konstituiert, indem sie aus dem Stadium des Agierens heraustreten, um „die monströse Farce, die lächerliche „Alpdruck-Pantomine“ ihres banalen Lebens, in dem sie sich für ein anderes Stück kostümiert finden oder die falschen Rollen geprobt haben, zu bekennen. Die Rückseite jener sozialen Ehrbarkeitssicherungen wird nach vorn gewendet, die uns wünschen lassen,

„ ... daß andere gut von uns denken,

Dann können wir selbst gut von uns denken...

Und jede Begründung ist uns recht:

Wir wollen nur beruhigt werden.“

Und trotzdem haben sie „Angst vor allem, was geschehen ist, und vor allem, was im Kommen ist“, und obgleich sie wissen, daß es kein Ausweichen gibt, weichen sie dennoch aus vor den Fragen, auf die sie keine faßliche Antwort finden.

Harry, der älteste Sohn des Hauses, der nach achtjähriger Abwesenheit zum Geburtstag seiner alten Mutter zurückkehrt und nun den väterlichen Besitz übernehmen soll, ist nach der Meinung seines Chauffeurs, „wie man so sagt, übersinnlich veranlagt“. Seine Frau, die in Opposition zur Familie gestanden und einen unerfreulichen Einfluß auf ihn ausgeübt, ist bei einer Meerfahrt ertrunken. Die Verwandten sind entsetzt über Harrys Geständnis, daß er sie über Bord gestoßen habe; ein Geständnis, das „wahr ist in einem anderen Sinn“; das ein Schuldgefühl in ihm erweckt, das

„ein gut Teil tiefer geht als bis ans Gewissen oder was die Menschen so nennen; es ist nichts als ein Krebs, der dein Ich auffrißt“, ein überindividuelles Schuldgefühl also, das ihn sagen läßt: „Nicht mein Gewissen, nicht mein Gemüt ist krank, sondern die Welt, in der ich leben muß“. Agatha, seine Tante, gibt ihm den Schlüssel, sein Schuldbewußtsein und Sühneverlangen, das ihn im Schloß unstillbar überfällt, zu deuten:

„Es ist möglich, daß du das Sichbewußtsein deiner unseligen Familie bist,

Ihr Vogel, ausgesandt, durchs Fegefeuer zu fliegen,

Tatsächlich, das ist möglich.“

In dem Augenblick, da Agatha ihn über die schuldhaften Verstrickungen seiner Familie aufklärt und er dadurch zu dem Wissen gelangt, „das der Sühne vorausgehen muß“, fühlt er sich glücklich, heimgekommen, die Eumeniden, die ihn bis hierher verfolgt, wandeln sich zu „hellen Engeln“, die ihn zum Aufbruch antreiben „zur Sorge für das Wohl von geringen Menschen, in die Schule der Unwissenheit, der unheilbaren Krankheiten“.

„Es ist Liebe und Furcht,

Was auf mich wartet und mich ruft und mich

nicht fallen lassen wird ...

Warum die Wahl auf mich fiel, Versteh ich nicht. Es muß immer vorbereitet

gewesen sein, Und ich seh, dies wat's, was ich immer wollte.“

So weitet sich das Drama zur Offenbarung des letzten menschlichen Lebenssinns, als Ent-Bindung aus aller schicksalhaften Verknotung dieser Welt, deren Mächte in uralten mythischen Symbolen (zu eieren Deutung ja gerade die Psychoanalyse neue Wege erschlossen hat) angedeutet werden. Und wir begegnen damit dem Dichter in der Reihe jener, die die Entwicklung einer Humanitätskonzeption durchbrechen, welche vielleicht am prägnantesten durch Goethes Gedanken der Sühne durch reine Menschlichkeit, die er der „Iphigenie“ vorangestellt hat, gekennzeichnet ist und später in eine psychologistische Selbstbetrachtung des Menschen mündete, die der sittlichen Konfrontation und damit der ursprünglich dramatischen Spannung entbehrte. Die äußerste Konsequenz dieser Entwicklung ist — wie Peter S t a n c h i n a, der verdienstliche Regisseur des Stückes, in einem Salzburger Vortrag darlegte — das Ost-Berliner Theater Bert Brechts, in dem eine perfekte Artistik alles Geheimnisvolle und Unbegreifliche konsequent und rücksichtslos aus der Darstellung des Menschlichen entfernt hat. Eliot wagt es wieder, das Geheimnis als Geheimnis, unentschleiert, zu bezeugen, mag er auch in dem 1939 in England erschienenen Werk noch nicht zur vollen geistigen Realisierung eines personalen Gottes, der die Barmherzigkeit und Liebe ist, vorgedrungen sein und sein Werk daher noch nicht jenen Glanz einer erlösten Freiheit tragen, der das brüsk Konzessionslose, Gewaltsame seines Werkes, das einer poetischen Schönheit nicht entbehrt, gelöst und gemildert hätte, um es dadurch dem Herzen des Oesterteichers, der im Durchschnitt noch zu sehr aus der Atmosphäre und zu wenig aus ihrem metaphysischen Hintergrund lebt, näherzurücken.

Jedenfalls war die österreichische Erstaufführung im Salzburger Landestheater eine mutige und geglückte Leistung, durch das zur Verfügung stehende Ensemble wohl vorbereitet und kühn mitten im Festspielsommer dargebracht. Das genaue Zusammenspiel der scharf profilierten Charaktere, die schwierigen Uebergänge zwischen den klar erfaßten seelischen Zuständlichkeiten waren in einer überaus deutlichen Sprachgestaltung und Gestik bewältigt, während die Manifestation des tremendum und fascinosum einer anderen Welt, die geheimnisvoll einbricht in diese Welt, an manche Grenzen der Darsteller stoßen mußte.

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