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Eine Baracke wird abgerissen

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VOR FÜNFZIG JAHREN STAND DAS „SALE” — das Ordenshaus und Schülerheim der Salesianer Don Boscos in Wien-Erdberg — noch ganz allein, nur eine Reihe von Fuhr- werkerhäusem an der Straße nach Südosten bildeten die Umgebung, im allgemeinen keine sehr sichere Gegend, denn, so erzählt man, damals mußten die Kinder am Abend nach der Jugendstunde noch nach Hause gebracht werden, weil es allein für sie zu gefährlich gewesen wäre. Seit 1910 nun ist dieser Boden mit der Jugendarbeit der Salesianer verknüpft und unter den „Ehemaligen” des Sale fällt uns mancher berühmte Name auf, wie der frühere Vizebürgermeister von Wien Lois Weinberger oder Sektionschef Doktor Chaloupka und der Direktor der Handelsakademie I, Dr. Charvat.

Die Tradition stets lebendiger Jugendarbeit ist später geblieben, gewandelt haben sich nur die Formen, die Steinbaracke aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg fiel den Bomben zum Opfer und so war man nach Kriegsende froh, eine alte RAD-Baracke zu bekommen: ein echtes Dorado für den Tatendurst und die Umgestaltungsfreude junger Burschen: Kein Jugendheim, wo jeder Kratzer an schön ausgemalten Wänden dem Pfarrer einen Herzanfall verursacht, sondern es ist das Haus der Buben, ein Haus, das sie sich immer neu gestalten, gemeinsam mit ihrem „Don”, Pater Friedrich Deb ray.

NUN SOLL DIESE BARACKE EINEM STUDENTENWOHNHEIM der Salesianer zum Opfer fallen und darum haben die „Hausherren” für den 25. März zu einem letzten großen „Hausabend” eingeladen — einer „Galanacht der Stars” — einem Zusammenwirken jener Persönlichkeiten, die einmal das Leben dieses Hauses durch einen Vortrag, durch einen Liederabend, durch eine Lesung bereichert haben, die aber selbst nie ohne durch ihr Publikum bereichert worden zu sein, das Haus verlassen haben. Aber davon wird noch zu reden sein. Es ist söhade um diese Baracke, so wie sie geworden ist, ohne Handwerker, denn der einzige Handwerker, den sie brauchen, ist der Glaser (wegen der vielen in jeder Woche zerbrochenen Fensterscheiben). Aber manches wird man schon mitnehmen können in das neue Haus, die vielen kleinen Dinge, die alle eine Geschichte erzählen könnten, die Petroleumlampe, die Wurzelstöcke, die der Pater so liebt, das Kreuz, das für dieses Haus gemacht wurde, und die Bilder. Denn nichts ist in diesem Haus, das nicht eigens für diesen Zweck und diesen Ort gemacht worden wäre. Das alles schafft jene Atmosphäre, in der man „bequem da sein” kann, wie der Pater sagt.

„RELIGION MUSS WIE LUFT SEIN, NOTWENDIG UND UNAUFFÄLLIG.” Dieses Wort Don Boscos ist der Schlüssel zu diesem Haus. Denn in der durch das Äußere geschaffenen Atmosphäre wirkt nur ein kleiner Kern um den Pater, der die geistige Linie bestimmt. Das tun diese Burschen, ohne zu predigen, wie das Konzil vom Laien verlangt, die Kirche dort zu vertreten, wo nur er sie vertreten kann. Dieser Kern ist die Seele des Hauses; wenn er versagt, dann versagt die Arbeit, aber dann ist immer noch die Gemeinschaft da, die den einzelnen trägt und hält. Man fühlt sich ganz einfach wohl beim Pater, und wenn man sich nicht anständig benommen hat, so kommt man einige Zeit nicht, bis man wieder für diese Gemeinschaft taugt. So klärt es sich ganz von selbst, wer dazu gehört und wer nicht. Noch nie mußte Pater Debray jemanden hinauswerfen.

Religion ist immer da, aber nie aufdringlich. Ganz selbstverständlich wird am Abend gebetet, auch wenn es vorher eine Tanzveranstaltung gab. Die Buben kommen und fragen, „Pater, wann machen wir wieder Eucharistiefeier?”, denn sie unterscheiden nämlich zwischen der traditionellen Sonntagsmesse und der lebendigen Liturgie, die sie gemeinsam feiern.

„Was mich an das Haus bindet, das sind die Hausabende und die Liebe des Hauses”, kann man in der sogenannten „Verbrecherkartei” lesen, jenem Buch, in dem jeder der Burschen etwas über sich selbst sagt. Sie lieben dieses Haus und sie kommen immer wieder; seltener manchmal, wenn sie ein Mädchen kennen; aber sie bringen auch ihre Mädchen mit, dann kann es sogar geschehen, daß der Pater nach Hamburg zur Trauung fährt. In der „Chronik” finden sich dann auch die Namen der Frauen und schließlich die Bilder der Sprößlinge.

Ob man für das Haus wirbt? Das kann man nicht sagen: die Leute sind ganz einfach da und halten sich an den Qualitätsmaßstab des Hauses, oder sie bleiben eben wieder weg. Es sind Schüler aus der gegenüberliegenden Mittelschule und Lehrlinge, brave und weniger brave, auch mancher, der der Kirche femsteht, kommt und lebt mit in dieser Gemeinschaft. „Das lieben, was die jungen Leute lieben, dann werden sie lieben, was du liebst!” ist ein anderes Wort des heiligen Don Bosco, jenes großen Freundes der Jugend, dessen 150. Geburtstag wir heuer feiern. Das kann dann auch dazu führen, daß man als Pater Obmann eines Stemmklubs wird, das heißt auch vor allem mit der Jugend leben und nicht sie „betreuen”.

WÄHREND MAN SO MIT PATER DEBRAY beim Kaffee und Schlagobers — „denn auch das gehört zum Stil des Hauses” — plaudert, kommen die Burschen herein. Sie schütteln dem Pater die Hand und dann laufen sie entweder im Fußballdreß auf den Sportplatz hinunter oder spielen Billard; jeden Tag wird ein Queue beschädigt, so daß der Pater schon sagen muß: „Ich komme mir vor wie ein Ober”, wenn er wieder den Queuekleber zur Hand nehmen muß. Wenn der Michael um zwei Uhr kommt und es ist noch nicht offen, dann fragt er ganz erstaunt: „Wieso ist das Heim noch nicht auf gesperrt, ich bin doch schon da!” Manchmal beschweren sich die Eltern, weil die Burschen überhaupt nicht mehr nach Hause kommen, aber das ist doch eher selten, denn die Eltern leben mit dem Heim mit, und der Pater kennt sie fast alle.

Um 15.30 Uhr kommt die „Gnä’ Frau”, wie die Burschen Frau Freizier, den zweiten guten Geist des Hauses, nennen. Sie sorgt für alles, was Männer eben doch nicht so recht können, von Blumen bis zu belegten Brötchen, vom sauberen Fußboden bis zum Schaukelstuhl, dem heißum- kämpften Sitzobjekt vor dem Fernsehapparat. Sie ist jeden Abend bis zum Schluß da (wie der Pater), und wenn auch offiziell um 22 Uhr Sperrstunde ist, inoffiziell kann es doch noch viel später werden. Vor einiger Zeit war ihr Sohn selbst noch einer der Mithausherren, jetzt klebt schon das Bild ihres Enkels in der „Chronik”.

DIE HAUSABENDE HABEN DEN STIL DES HAUSES GEPRÄGT. Nimmt man die Chronik zur Hand, so überrascht zunächst die Vielfalt der Namen, Politiker sprachen, Dichter, man findet Burgschauspieler und Opemsängerinnen, Wissenschaftler und Journalisten, eine schier endlose Reihe an Gästen, die diese Chronik aufweisen kann. Mehr aber überrascht, was diese Gäste ins Gästebuch schrieben, wie fasziniert sie vom Publikum waren; fast alle baten sie, wieder einmal eingeladen zu werden.

So ein Hausabend besteht aus drei wesentlichen Punkten: Pünktlichkeit, Festlichkeit und Gastlichkeit. Gastgeber sind die Burschen, daher kommt jeder in einem festlichen Anzug, denn er weiß, daß ihn sonst der Pater nach Hause sich umziehen schickt. Gastlichkeit heißt, daß jeder zwei Sandwiches mitbringt und zwei Schilling für die Unkosten des Abends beisteuert.

Dann kommt also der Gast. „Don” hat Magenschmerzen, bis der Gast mit seinem Vortrag beginnt, dann aber löst sich die Spannung und es entsteht eine lockere und oft sehr beschwingte Stimmung. Je besser die Stimmung, desto später wird es dann! Nach dem Vortrag schleppt man den Gast in die Bonzenecke, eine besonders gemütlich ausgestal- .tete Ecke des Hauses, und so bleibt man oft noch lange beisammen. Auch die Professoren der Schüler kommen, und nicht nur einmal sagen sie nach einer heftigen Diskussion, „Pater, das müssen Sie wieder machen!”

Was kann diese Chronik nicht alles erzählen: Von Burgschauspieler Richard Eybner, der seinen ersten Abend im Haus mit echtem Lampenfieber durchstand und seither immer wieder kommt, der Weinheber für sie las, und von Felix Steinböck, der den „Cornett” vortrug; von Julia Janssen, die aus Originalmanuskripten Bergengruens las, die dann bei der Eröffnung des neuen Bubenheimes unter der Kirche in die Chronik schrieb: „Unten ist das Wirtschaftswunder, hier ist eine wunderbare Wirtschaft.” Die Chronik erzählt von einer Lesung Christine Bustas, von vielen Abenden, die Herbert Lederer im Hause gab, der nach seinen Worten nirgends eine so gute Atmosphäre fand wie hier; vom Kammersängerin Rosette Anday, und in jüngster Zeit erinnert man sich eines hervorragenden Abends mit dem Singkreis Gilg.

Dr. Josef Klaus, damals noch Finanzminister, sprach in diesem Haus und machte Schlagzeilen in den Zeitungen. Erschütternd war ein Abend über das Wiedererstehen Österreichs im Jahre 1945, den Dr. Felix Hurdes hielt, der schon Jahre vorher in die Chronik geschrieben hatte: „Das ist euer Vorteil, daß ich euer Abgeordneter bin. Ich stehe daher auch immer zu eurer Verfügung.” Neben dem Herausgeber der „Furche”, Univ.-Prof. Burghardt, haben auch die Redakteure Doktor Abendroth und Dr. Mayer zu den jungen Leuten gesprochen. Der Vizepräsident des Wiener Stadtschulrates Dr. Bittner war ebenso zu Gast, wie der sozialistische Bezdrks- vorsteher des dritten Bezirkes und wie auch Stadtrat DDr. Prutscher.

„Vor gewaschenen Hälsen über den Unsinn des vielen Badens”, sprach die Fachärztin Dr. Gillesberger und feierte Triumphe. Groß ist auch die Zahl der ausländischen Gäste, die dieses Haus schon besuchten. Studenten aus allen Ländern der Welt, Japaner wie Koreaner, Afrikaner und Araber, sie wollten außer der Stadt Wien auch noch Wiener kennen lernen. So lud man sie in dieses Haus …

Aber nicht nur von den großen Hausabenden erzählt die Chronik, auch von „Hausabenden mit uns selbst”, glanzvoll gestalteten Festen der Burschen, vom „Opernbällchen”, dem Tanzfest, zu dem schon Wochen vorher silberne Krönchen gelötet werden, und von den Bergfahrten im Sommer und Winter. Sie erzählt von Pater Debray, der leidenschaftlich gerne kocht, und von den kleinen und großen Ereignissen im Leben der Burschen, von bestandenen Prüfungen und von Erfolgen im Beruf; von Fässern Bier, die zu besonderen Anlässen gestiftet wurden.

JETZT MÜSSEN DIE BUBEN MIT IHREM „DON” AUSZIEHEN bis das neue Studentenheim fertig ist, das an der Stelle der Baracke errichtet werden soll. Aber wohin? Da fand sich ein wunderbares altes Fuhrwerkerhaus, mit einigen Zimmern — fürs Fernsehen und für eine kleine Bar; einer Scheune, die das neue Zimmer für die Gruppenstunden wird, einem Stall, der nun zum neuen Vortragssaal umgebaut werden soll. Dieser alte, heruntergekommene Bau gewinnt durch die Worte des Paters wieder Leben: man sieht schon die neuen Hausherren am Werk, man hört bereits die Serenaden aufklingen, die unter dem alten Nußbaum im Hof stattfinden sollen. Es wird den Burschen wiederum Spaß machen, umzubauen, und sie werden auch hier viel Freude finden, schließlich hat man dann ein eigenes Zimmer für die elektrische Eisenbahn!

Eines wünscht sich Pater Debray noch, nämlich einige Hilfe von Erwachsenen, die aktiv mitarbeiten bei der Planung, ihn unterstützen, die, wie er sagt, „keine Rechte, sondern bloß Pflichten spüren”.

Während des Gespräches hat sich das Haus gefüllt, es sind heute wieder einige neue Gesichter da — eines Tages werden sie ernster angesprochen werden — dann bleiben sie, oder sie gehen wieder, wenn sie nicht erfassen, was die Gemeinschaft bedeutet.

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