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Eine Chronik der musikalischen Avantgarde

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Neue Musik. Von H. H. Stuckenschmidt. (Zweiter Band der Reihe „Zwischen den Kriegen".) Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 479 Seiten

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Neue Musik. Von H. H. Stuckenschmidt. (Zweiter Band der Reihe „Zwischen den Kriegen".) Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 479 Seiten

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Man könnte die Musikwissenschafter oder Kritiker, von denen man sich ein solches Buch wünschte, an den Fingern einer Hand aufzählen. Der bekannte deutsche Musikschriftsteller H. H. Stuckenschmidt gehört zu diesen wenigen, die die Musik ihrer Zeit nicht nur gehört und beobachtet, sondern miterlebt haben. Als Musikkritiker (zuerst in der „BZ am Mittag" in Berlin, gegenwärtig gelegentlich in der „Neuen Zeitung", München) besitzt er ein sehr sicheres Gefühl für das wirklich Neue und Zukunftweisende und die seltene Gabe, neue Formen und Ausdrucksmittel suggestiv zu beschreiben, so daß sich auch der lesende Laie von dem, was in seiner Abwesenheit im Konzertsaal vorgegangen ist, eine ungefähre Vorstellung machen kann. Hiedurch ist es Stuckenschmidt immer wieder gelungen, breite Kreise für die neue Musik — wenn auch nicht zu gewinnen, so doch zu interessieren. Er hat zur Propagierung und Popularisierung der zeitgenössischen Musik sehr viel getan, und sein Buch ruft, neben vielem anderen, lebhafte Erinnerungen an das Heldenzeitalter der neuen Musik, vor allem an die Zeit zwischen 1920 und 1930, ins Bewußtsein.

Stuckenschmidt sieht jene „moderne.Musik" als das, was sie war, nämlich als eine radikale, avantgardistische europäische Bewegung, deren wichtigste Vertreter dann später, etwa seit der Mitte der dreißiger Jahre, auf der Höhe der Meisterschaft, meist in traditionellere Bahnen einlenkten. Hierüber finden wir leider nur Andeutungen in dem Buch, das eigentlich vor dem im Reihentitel angegebenen Zeitpunkt schließt. (Für Deutschland zum Beispiel mit 1933.) Der Autor begründet seinen Standpunkt mit aller wünschenswerten Klarheit: „Hatte die Epoche des Experiments, in der alle bestehenden Traditionen in Frage gestellt wurden, das Jahrzehnt von 1910 bis 1920 ausgefüllt, so war die Zeit bis 1930 der Neuordnung, der Aufstellung anderer Gesetze oder, wie es Strawinsky etwas heiterer nennt: Spielregeln gewidmet. Von 1930 an hätte die Ausbreitung beginnen sollen. Die politische Entwicklung des Abendlandes wollte es nicht. Noch ein paar Jahre waren der Entwicklung der avantgardistischen Künste vergönnt, dann wurde der fortschrittliche Geist auf das Prokrustesbett der totalitären Kulturen gelegt und nach dem Belieben der Machthaber zurechtgestutzt. Die europäische Avantgarde emigrierte. Sie fand neue Lebens- und Wirkungsmöglichkeiten in der Neuen Welt. Die Flamme ihres Vermächtnisses erlischt nicht. Sie wurde, wie das olympische Feuer, weitergetragen, an ferne Küsten, um von dort zurückzuleuchten an ihre Ursprungsländer."

Die Darstellung beginnt mit Debussy („Der Radikalismus der älteren Generation") und

endet mit George Gershwin. Doch werden auch innerhalb dieses Zeitraumes jene Musiker, die nach der Meinung des Autors zum Fortschritt der Musik nichts Wesentliches beigetragen haben, entweder ganz weggelassen oder nur gelegentlich erwähnt (Pfitzner, Korngold, Marx, Schmidt, Schoeck u. a.). Von besonderer Bedeutung dagegen erscheinen der kulturelle Weltbürger Busoni und sein Schülerkreis, die Ecole d'Arcueil, die Berliner Novembergruppe (zu der auch Stuckenschmidt gehörte), die Schule der Nadja Boulanger, mit Jean Cocteau als Programmatiker, und die experimentierenden jungen Amerikaner (įves, Vareze, Antheil u. a.). Strawinsky, Bartök und Hindemith werden vor allem in ihrer frühen revolutionären Phase dargestellt. Am ausführlichsten aber wird die Zwölftonmusik behandelt, der offensichtlich die Sympathie des Autors gehört. Leider verliert er sich in diesen Abschnitten ins Theoretisieren und Analysieren, und diese Kapitel sind auch die einzigen, die für den gebildeten Laien — an den sich doch wohl das Werk und die ganze Serie „Zwischen den Kriegen" wendet — kaum mehr faßbar. Auch hinter manches Werturteil über die Dodekaphonik möchte der Rezensent ein Fragezeichen setzen. — Von besonderem Interesse sind die in einem eigenen Kapitel besprochenen Organisationsinstrumente der neuen Musik: der 1918 von Schönberg in Wien gegründete „Verein für musikalische Privataufführungen“, die Musikfeste der IGNM, die von Donaueschingen und Baden-Baden, die Aktivität der Musikzeitschriften „Melos", „Anbruch" und „Modern Music“. Hier kann der Autor aus dem Vollen schöpfen, da er an vielen dieser Unternehmungen beteiligt war.

In einem umfangreichen Anhang sind wichtige Selbstzeugnisse zeitgenössischer Komponisten und Theoretiker zusammengestellt: Antheil schreibt über „Musik der Präzision", Bartök über Musikfolklore, Busoni über eine neue Klassizität, Häba über Vierteltonmusik und athematische Technik, Prokofieff über seine Arbeitsweise, Schreker über die Ideen und die Form seiner Opern — und Strawinsky meint, daß alles Reden und Schreiben über Musik nicht viel nützt: „Man würde damit nichts gewinnen, denn es ist unmöglich, das Ohr mit Hilfe eines Kommentars aufnahmefähiger zu machen." Jede neue Musik brauche ihre Zeit, bis sich das Publikum an die neue Sprache gewöhnt hat. — Wenn es nun aber schon einmal Menschen gibt, denen das zu lange dauert und die unbedingt über neue Musik schreiben müssen, dann mögen sie es so tun, wie der Autor des hier angezeigten, schön ausgestatteten und sorgfältig korrigierten Buches: der Welt und der Gegenwart aufgeschlossen, mit Sachkenntnis, lebendig und interessant.

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