6667624-1960_43_11.jpg
Digital In Arbeit

Eine Chruschtschow-Biographie

19451960198020002020

CHRUSCHTSCHOW. Von Georg Paloczi-Horvath. Berechtigte Übertragung aus dem Englischen von Rolf Hellmut Foerster. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main 1960. 395 Seiten

19451960198020002020

CHRUSCHTSCHOW. Von Georg Paloczi-Horvath. Berechtigte Übertragung aus dem Englischen von Rolf Hellmut Foerster. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main 1960. 395 Seiten

Werbung
Werbung
Werbung

Auf eine vollgültige Biographie Chruschtschows werden wir noch lange warten müssen. Daß sie nicht innerhalb der Sowjetunion oder in einer Volksdemokratie erscheinen könnte, ist ohne weiteres klar; daß sie nur dort auf Grund der in der UdSSR reichlich vorhandenen Quellen geschrieben zu werden vermöchte, nicht minder. Um wenigstens eine brauchbare Lebensbeschreibung des rätselhaften, unheimlichen, außerordentlichen Mannes zu bekommen, hätte ein mit der sowjetischen Wirklichkeit wohlvertrauter Historiker von politischem Scharfblick das gesamte, westlich des Eisernen Vorhangs zugängliche Material — kommunistische, antikommunistische und neutrale Druckwerke, Quellenpublikationen und Zeitungen inbegriffen — durchzuackern und sich an einwandfreie Augenzeugen, vornehmlich aus der in Moskau akkreditierten Diplomatie, zu wenden. Doch auch dann wäre ein hervorragender kritischer Spürsinn unerläßlich, um ein einigermaßen objektives Bild aus einer erdrückenden Fülle einander widersprechender Nachrichten herauszuholen. Im deutschen Sprachraum gibt es zwei Autoren, die dazu imstande wären, und nur diese beiden: Klaus Mehnert und Boris Meißner. Der zweitgenannte hat ein bedeutendes Werk unter dem Titel „Rußland unter Chruschtschow“ verfaßt (bei R. Oldenbourg, München 1960. XVI + 699 Seiten). Doch es enthält nur eine, allerdings glänzend gelungene Erzählung und Würdigung der inneren und äußeren Politik der UdSSR seit der sogenannten Entstalinisierung, dazu einen vortrefflichen Anhang von Dokumenten.

Es ist für das oberflächliche und geschwätzige Buch des aus Ungarn stammenden, heute in England lebenden Journalisten Paloczi-Horvath bezeichnend, daß es die meisten der von Meißner in den Mittelpunkt gerückten Probleme der Jahre, durch die Chruschtschow ins zentrale Blickfeld der Mitwelt geraten ist, nur streift oder sie gar nicht behandelt. An der gesamten Biographie, die noch durch eine sehr mäßig Übersetzung verliert, scheint mir eines verdienstlich und hervorzuheben: daß der Autor mit

Recht die Wichtigkeit der ukrainischen Episoden im Leben seines ihm verhaßten Helden unterstreicht und daß er damit zugleich die landläufige Verwunderung über das „plötzliche“ Aufkommen und die Regierungskünste eines vordem im Westen schier Unbekannten als eine der zahlreichen peinlichen Überraschungen dartut, die eine unausrottbare Unkenntnis sowjetischer Gegebenheiten stets aufs neue der breiten westlichen Öffentlichkeit samt nicht wenigen abendländischen Staatsmännern und Diplomaten bereitet.

Sonst jedoch! Die ersten 90 Seiten von Insgesamt 375 der eigentlichen Biographie Chruschtschows wären, von allem überflüssigen Beiwerk befreit, das mit dem Thema Paloczi-Horvaths nicht zusammenhängt, in ebensoviel Zeilen zusammenzufassen. Über Herkunft, Kindheit und Jugend Nikita Sergiejewitschs erfahren wir nicht m e h r relativ Verbürgtes, als in der Hauptquelle des Autors, der Großen Sowjetenzyklopädie, steht. Darüber hinaus lesen wir Reflexionen, breit ausgemalte allgemeine Schilderungen und auch sinnlosen Tratsch, wie den über Chruschtschows angebliche, immerhin auch von dem Autor mit einem Fragezeichen versehene Abstammung von einem verarmten Gutsbesitzer. Es sei nichts Authentisches über die Zeit vor dem Eintritt in die Partei und wenig aus den folgenden Jahren bis 1931 zu berichten. Nun sind wir über die nächsten Vorfahren des ersten Mannes im Kreml durchaus unterrichtet. Wir wissen, daß noch sein Großvater nicht etwa ein Baron, sondern ein leibeigener Muschik gewesen ist; wir haben gar manches über beide Großeltern des heute Allgewaltigen gehört und noch Genaueres über seine Eltern. Es wäre zu betonen gewesen, daß die Chruschtschows von ukrainischen Kosaken stammen, die zu Bauern wurden, seit zwei Generationen aber Proletarier waren; daß Nikita Sergiejewitsch Russisch mit deutlichem ukrainischem Akzent spricht; daß er als Kind fromm und ein eifriger Schüler der Pfarrschule war. So nebenbei: seine sehr merkwürdige Stellung zum lieben Gott und zur Religion wird von Paloczi-Horvath kaum gestreift; sie ist von großem Belang. Über die Kampf- und Wanderjahre Chruschtschows wäre unendlich mehr zu melden, als dies der Verfasser tut. Wir können nicht im einzelnen jedes der Kapitel des Buches so beleuchten, wie es an sich nötig wäre. Nicht eines befriedigt.

Begnügen wir uns, auf einige kapitale Mängel hinzudeuten. Es fehlt die Darstellung der sehr komplexen Beziehungen Chruschtschows zu Shdanow. Für die Biographie des sowjetischen Machthabers so wichtige Gestalten, wie Kozlow und Kosygin, werden, der eine nur auf einer Zeile, der andere gar nicht erwähnt. Die entscheidende Rolle, die Chruschtschows zweite Gattin bei seiner außerschulischen Bildung und überhaupt in seinem Dasein spielte, bleibt unsichtbar. Falsch ist die Vorgeschichte der ephemeren Aussöhnung mit Tito dargestellt; völlig irrig wird die Lage der UdSSR im Jahre 1945 dargelegt. Am meisten Protest muß die Behauptung auslösen, Nikita Sergiejewitsch sei zu seiner berühmten Rede über Stalins Tyrannei (vom 24. Februar 1957) durch Shukow und Mikojan gezwungen worden. Nicht minder Einspruch erheischt die Ansicht, der Westen hätte durch energisches (lies: bewaffnetes) Eingreifen im Oktober/November 1956 die Sowjetunion von der Intervention in Ungarn abhalten können. Unbefriedigend sind die Ausführungen über den 20. und den 21. Parteitag der KPSS. Ganz grotesk aber dünkt uns, daß über die sowjetische Astronautik kein Sterbenswörtchen zu finden ist, obzwar doch Sputnik, Lunnik und dergleichen wesentliche Brennpunkte in Nikita Sergiejewitschs Lebensbahn sind. Den Vorgängen, die zur Amerikafahrt Mikojans und dann Chruschtschows gediehen, wird ebensowenig Aufmerksamkeit gewidmet wie der gescheiterten Gipfelkonferenz, deren Präludien zur Zeit des Erscheinens der deutschen Ausgabe dieses Buches zu beobachten waren. Ganz verfehlt ist die Untersuchung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen. Paloczi-Horvath nimmt, wie so viele angelsächsische Zeitungsleute (und leider auch verantwortliche Politiker) Wunschträume für Wirk-' lichkeir. Wie es faktisch um das Verhältnis zwischen' Peking und Moskau beschaffen ist, darüber verbreitet e i n fachkundiger Aufsatz, etwa von Li-(ts)Chi in „Osteuropa“ (Heft 7/8 von 1960), mehr Licht als hunderte Variationen über die angeblich schwerwiegenden Zerwürfnisse der beiden kommunistischen Weltmächte. Falsch werden Mikojan, Suslow und Woroschilow (der inzwischen ausgebootet wurde) in bezug auf ihr Verhältnis zu Chruschtschow eingestuft. Als sehr störend empfinden wir, daß die Erzählung scheinbar bis in die Mitte des Jahres 1960 fortgesponnen wird, tatsächlich aber mit 1958 endet. Endergebnis: wir warten noch immer auf eine gute Chruschtschow-Biographie.

Das haben wir vermutlich, ebenso wie die dem Kundigen bald offenbare Unzuständigkeit des Übersetzers, auf Rechnung der deutschen Ausgabe zu buchen. Der Traditore-Traduttore weiß mit manchen englischen Worten und mit der englischen Orthographie verballhornter slawischer Namen nichts anzufangen. So treffen wir denn auf Leute, die „Lange lebe Ungarn“ rufen! Zweimal gibt es Konklaves der Kommunistenführung. (Was sich wohl Herr Rolf Hellmut Foerster unter einem Konklave vorstellt?) Aus einem Kowaltschuk (eigentlich Kovalcuk) wird ein Kowalchuk, der polnische Schriftsteller Wazyk verwandelt sich in einen Wasijk, sein Kollege Milosz wird des Schluß-z beraubt. Wir stießen uns nicht an derartigen Nebensachen, bezeigten sie nicht das Niveau einer Verdeutschung, das noch geringer ist als der Wert des Originals.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung