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Eine Denkschrift und eine fällige Antwort

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Die soziale Gesetzgebung unseres Landes hat in stetiger, mehr als halbhundertjähriger Entwicklung einen vornehmen Stand erreicht; wir Oesterreicher pflegen uns auf ihn als einen der Ehrentitel unseres Landes mit Recht zu berufen. Dennpch hat es damit seine eigene Bewandtnis. Unser soziales System ist auf das Wohl des Volksganzen hin gerichtet, auf einen Ausgleich zwischen den Mächten des Kapitals und den Massen der Schwachen und kleinen Leute, auf eine friedliche Ordnung der staatlichen Gemeinschaft. In diesem Dienste steht die ausgebreitete Gesetzgebung, stehen die geschaffenen staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen, das Bemühen der Gewerkschaften und Kammern. Die soziale Rüstung, die wir tragen, bedeckt fast den ganzen Volkskörper. Doch besteht eine seltsame Lücke. An die tiefsten Wurzeln menschlicher Existenz heranzugehen, hat unsere Sozialpolitik noch nicht vermocht. Und doch gehört zur menschlichen Wohlfahrt mehr als Arbeiterschutz, Arbeitsbeschaffung, gerechter Lohn, Versichertsein für Alter und Krankheit und so fort. Zugleich Bevölkerungspolitik zu sein, hat unsere Sozialpolitik nur spärlich versucht. Warum fehlt hier das naheliegende enge Verwachsensein der Sozialpolitik mit der Bevölkerungspolitik? Wo es um die Familie und das Wachstum und die Sicherheit des Volksbestandes geht, hängt uns noch ein Stück reaktionären Altliberalismus an: „Stört nicht die Natur in dem freien Spiel der Kräfte! Laßt wachsen, was zu wachsen vermag, und was nicht mitkann, das verkomme!“ Wir notieren zwar gewissenhaft, daß Oesterreich unter allen Völkern die elendeste Geburtsrate hat und, auf weite Sicht gesehen, das österreichische Volk bei Fortdauer der jetzigen Zustände der Verfremdung und dem Aussterben entgegengeht. Aber wir verzichten auf eine Abwehr. Zwar machen wir einen Versuch, mit Kinderbeihilfen den Familienstand zu bessern, aber dieses bescheidene Unternehmen ist so fern von echter Planung, daß selbst diese Maßnahmen zum guten Teil am Ziel vorbeigehen. Wir machen große Anstrengungen in unserem öffentlichen Bauwesen für Wohnungsbeschaffung, aber hier und dort ist die Wohnraumzuteilung so ärmlich, daß sie den Kinderreichtum ebenso verbieten möchte wie der vielzitierte kinderfeindliche Hausherr der Backhendelzeit eines satten Bürgertums. Nachdenkliche Erwägungen beschwichtigen wir mit dem tröstlichen Wissen, daß einer der ärmsten und verlassensten Volksstände, das Bergbauerntum, mit seinem Kinderreichtum noch tapfer dem Verfalle trotzt, der in die Volkskraft wohlhabendster österreichischer Bauernlandschaft schon eingebrochen ist.

Bevölkerungspolitik als Fundament einer gesunden Sozialpolitik? Geben wir uns doch Rechenschaft, daß einer zielbewußten Vorsorge für das Leben der Gemeinschaft in demselben Maße widersprochen wird, als die sittlichen und rechtlichen Grundeinrir.h-tungen der Ehe und der Familie, der fundamentalen Elemente von Gesellschaft und Staat, abgewertet werden. Die Herabwürdigung von Ehe und Familie erhielt ihre Vollendung, seit wir uns dazu einer fremden

Gesetzgebung, des nationalsozialistischen, dem österreichischen Volke oktroyierten Eherechtes bedienen und diesem Erzeugnis der Diktatur erlauben, bei uns weiter zu existieren. Die grimmigsten Antifaschisten machen Mauer für das Hitlerrecht in Ehesachen, die Beschlagnahme eines geheiligten privaten Rechtsbezirkes, und sehen zu, wie in diesem Zeichen ein erschreckender, von der Statistik nicht einmal völlig zu erfassender Verfall der Eheinstitution in Oesterreich sich vollzieht.

Die Streuwirkungen dieses Prozesses sind bis in die Verwaltung erspürbar. Noch in die Anfänge des vorigen Jahres reicht ein Schriftenwechsel und ein Gedankenaustausch zurück, der durch ein im Namen des österreichischen Gesamt-Episkopates von Kardinal Dr. I n n i t z e r zuhanden des Bundeskanzlers Figl an die Bundesregierung ger.tii-tetes Schreiben eröffnet und, in Beratungen der berufenen Stellen fortgesetzt, jetzt durch eine den National- und Bundesräten zu-gemittelte, von Erzbischof-Koadjutor Doktor J a c h y m verfaßte Denkschrift in ein neues Stadium tritt.

*

Ein sehr ernster, aus grundsätzlichen Rücksichten sehr gewichtiger Tatbestand liegt vor. Zufolge gesetzlicher Bestimmungen haben Witwen im Falle ihrer Wiederverehelichung keinen Anspruch mehr auf ihre Witwenrente oder Pension mit der Begründung, daß diese Bezüge nur den Charakter von Versorgung für den Fall der Bedürftigkeit haben; nicht mehr erscheine Bedürftigkeit gegeben, wenn die Versorgungspflicht dem neuen Ehegatten, so wie es das Gesetz bestimmt, zugefallen ist. InWirklichkeitbeziehen97bzw. 99 Prozent aller Witwen ihre Rente, auch wenn sie, wie die meisten von ihnen, eine neue eheähnliche Gemeinschaft eingegangen sind. Der Rentenbezug bleibt ihnen gesichert, weil sie der standesamtlichen Registrierung ihrer neuen Verbindung ausgewichen sind und als alleinstehend behandelt werden. Das klingt wie ein Scherz. Doch in nicht wenigen Fällen ist der Tatbestand blutiger Ernst. Nach dem Verlust ihres Gatten steht die vereinsamte Frau vor harten Entscheidungen. Die Rente ist ein bescheidenes, noch der Ergänzung bedürftiges Einkommen, zumal wenn die Witwe aus ihrer Ehe Kinder besitzt. Sie kann nicht in einer neuen Heirat Stütze suchen, sonst verliert sie nach dem Gesetz die Rente. Verzichtet sie auf den Gang zum Standesamt, wenn sie eine neue Verbindung eingeht, so verbietet ihr das Gesetz auch die kirchliche Trauung. Das von der Zweiten Republik konservierte Personalstandsgesetz aus der Hitler-Zeit bedroht sogar den Priester, der die kirchliche Trauung vollziehen wollte, wenn zuvor keine standesamtliche Zeremonie stattfand, mit empfindlichen Strafen. „So flüchtet sich“, schrieb der Kardinal an den Bundeskanzler, „ein Großteil der von diesen Bestimmungen Betroffenen in Lebensgemeinschaften aller Art.“

Schon besteht dafür ein Fachausdruck: „Die Rentenkonkubinate.“ Eine in den österreichischen Diözesen versuchte sta-

rist'sche Erhebung brachte ein erschütterndes Ergebnis. Im Durchschnitt findet mehr als ein Drittel aller unter Katholiken bestehenden Konkubinate im drohenden Verlust der Rente bei Wiederverehelichung einer Witwe seine Begründung. „In einzelnen Diözesen“, stellt die Denkschrift Dr. Jachyms fest, „ist der Hundertsatz noch höher — im Burgenland beträgt er 65 Prozent.“

Wie viele Tragödien der Gewissensnot christlicher Frauen mögen sich hinter diesen nackten Prozentziffern verbergen! Nach Meinung und Vorschlag der Bischöfe bleibt, um den Mißständen zu steuern, nur eine Gesetzesrevision übrig, die den Weiterbezug der Witwenrente dann ermöglicht, wenn erweisbar das Einkommen des neuen Ehepartners zum standesgemäßen Unterhalt der Familie nicht ausreicht. Die bisherige Antwort aus der Mitte der beteiligten ministeriellen Ressorts war, daß zu einer Aenderung der Gesetzeslage — also zu einer Aenderung der die Rentenkonkubinate im Großbetrieb erzeugenden Bestimmungen — „vom Standpunkte der S t a a t s b e 1 a n g e kein Anlaß bestehe“. Eine Erforschung wäre am Platze, für welche in der

zitierten Denkschrift schonungsvoll ungenannt gebliebene bürokratische Stelle es „vom Standpunkt der Staatsbelange“ interesselos ist, daß gesetzliche Bestimmungen ihren Zweck völlig verfehlen, weil die von ihnen erstrebten Einsparungen zu 99 Prozent nicht erreicht werden. Daß es weiterhin ohne Interesse ist, „vom Standpunkt der Staatsbelange“, wenn durch solche verfehlte gesetzliche Maßnahmen jruinenhafte Zustände im Ehe- und Familienleben erwachsen, und daß es auch interesselos sei für die Belange unseres stolzen sozialen Staates, daß unschuldige, wehrlose Kinder aus solchen Verbindungen die von schweren Rechtsverlusten bedrohten Opfer dieser Unordnung werden.

Das Rentenkonkubinat ist nur eines aus dem Bündel der schwerwiegenden ethischen und sozialrechtlichen Probleme um Ehe und Familie, die gebieterisch das Bemühen und das Pflichtbewußtsein der Volksvertretung ansprechen. Mit Ausweichen und Vertagung werden die Uebel und die sittliche und politische Verantwortung der zum Handeln Berufenen verschärft. Eine Verzettelung der vielfältigen schweren Folgen ist nicht mehr tragbar.

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