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Eine Geschichte der Diplomatie

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Histoire Diplomatique de 164 8 ä 1919. Von Jacques Droz. Verlag Dalloz, Pari.619 Seiten

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Histoire Diplomatique de 164 8 ä 1919. Von Jacques Droz. Verlag Dalloz, Pari.619 Seiten

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Das Buch des französischen Historikers, eines Schülers Pierre Renouvins, verdient in hohem Grade die Aufmerksamkeit deutschsprachiger und überhaupt nichtfranzösischer Leser. Dem Werk gebührt zwiefach Anerkennung, doch es müssen ihm gegenüber auch zweierlei Vorbehalte angemeldet werden. Als Vorzüge sind die klare Gliederung, die eindringliche Darstellung und das Herausarbeiten der, nach Ansicht des Verfassers, wesentlichen Grundlinien zu rühmen. Unser Beifall ist dem Autor überall dann und dort sicher, wo er Französisches mit Recht in den Vordergrund rückt; er schöpft dabei aus einer wirklich souveränen Kenntnis der Tat-Stehen, der Quellen und der Fachliteratur. Wir pflichten ferner Droz bei, sooft er seinen gesunden Menschenverstand und seinen kritischen Sinn des Gelehrten, des erfahrenen politischen Beobachters sprechen läßt. Unsere Einwendungen aber betreffen das Verzerren der Proportionen, sobald es sich um Probleme dreht, die Frankreich wenig oder gar nicht angehen und die dennoch ganz unter französischem Gesichtswinkel gesehen werden: wir beklagen die ungenügende Beachtung neuerer deutscher und die völlige Vernachlässigung östlicher Forschung, was beides dem Kundigen schon aus dem anhangsweise dargebotenen Literaturverzeichnis bestätigt wird. In formaler Hinsicht ist die sehr liederliche Korrektur der fremden Eigennamen zu bedauern; wir wollen nämlich höflich sein und die Fülle der Verball-hotnungen nur dem Korrektor, nicht jedoch dem Autor anlasten Schließlich werden bei der gesamten Schilderung der weltpolitischen Ereignisse zwar, in sehr dankenswerter Weise, die sozialen und wirtschaftlichen Momente ebenso gewürdigt wie die Rolle der Großen Männer, die nationalen Imponderabilien und, wenn auch allzu wenig, die geistigen Strömungen, doch auf die wichtigen, mitunter entscheidenden Einflüsse hinter den Kulissen wirksamer, dem allzu formalistischen Geschichtsforscher schwer greifbarer Kräfte — der Geheimgesellschaften, der Hochfinanz, kirchlicher Organisationen — wird nicht eingegangen. So bleibt bei den bedeutsamsten Entwicklungen der letzte Zusammenhang offen. Das gilt etwa für die Vorgeschichte der Französischen Revolution, für die Politik Napoleons III., für die Ursachen des ersten Weltkrieges und für das Zerschlagen der Habsburgermonarchie. Ueber die Weltanschauung Professoi Droz' mit ihm zu rechten, wäre freilich verfehlt, obzwar wir in ihr die vordringlichen Gründe für die eben angemerkten Unzulänglichkeiten zu erblicken haben. Er ist Vertreter der Schule, die — mit Lavisse und Seignobos als Vormännern — die herrschenden Ideen der laizistischen Republik und das Erbe der Basrillenstürmer hütet. Wir müssen es dem Gelehrten dankbar anrechnen, daß er sich dennoch um ruhiges Urteil über ihm unsympathische Phänomene und Gestalten bemüht.

Das Handbuch ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert: Französische Hegemonie 1648—1715; Englische Vorherrschaft 1715—1789; Revolution und Kaiserreich 1789—1815: Europäisches Konzert und Erwachen der Nationen 1815—1871; Deutsches Uebergewicht 1871—1919. Droz kann, unbeschadet seines Strebens nach Objektivität, den eigenen Standort insofern nicht verleugnen, als er immer wieder die Dinge vom europäischen Westen her und speziell von Frankreich aus betrachtet. Gleich der erste Satz ist daKir charakteristisch: „Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte auf Europa eine Drohung gelastet: die Hegemonie des Hauses Oesterreich, mit der die Sache der Gegenreformation und die der allgemeinen Wiederherstellung der katholischen Religion verknüpft waren.“ Ein Historiker, der das Geschehen von anderer Warte aus überblickt, dürfte mit ebensoviel Recht behaupten, es habe auf Europa die Drohung einer französischen Hegemonie gelastet — welche Vorherrschaft sich ja seit 1648 verwirklichte — und damit sei die Sache der Reformation und die des Verewigens der Kirchen-tiennung verbunden gewesen.

Dem Rezensenten obliegt noch die undankbare Aufgabe, zur andeutungsweisen Rechtfertigung im Laufe dieser Besprechung vorgebrachter Kritik, auf einige der „Unstimmigkeiten“ in Droz' Handbuch hinzuweisen.

Seite 18: König Jan Kazimierz von Polen war nicht „Vasa par sa meie“, sondern selbst ein Wasa aus dem schwedischen Königshaus. Seite 60: Der französische Botschafter in Polen hieß Forbin-Janson, nicht Forbin-Jeanson. Seite 102: Wenn Droz von der „forte heredite“ Friedrichs des Großen spricht, der dem Erbe seiner Ahnen eine „raffinierte Kultur und Geschmack am Nachdenken“ hinzufügt, dann vergißt der Autor (oder er kennt nicht) den Anteil französischen Bluterbes, das dem Philosophen von Sanssouci durch die Urgroßmutter Eleonore Desmiers d'Olbreuse, anderseits durch die Oranier und die Coligny zugeflossen ist. Seite 143: Es geht nicht an, Maria Theresias „Jeremiaden“ im Stile Friedrichs II. zu verspotten, der von ihr höhnte, „sie nahm und weinte“; denn wir besitzen eine Menge urkundliche Zeugnisse für den schweren Gewissenskampf der Kaiserin und, leider, für die unlauteren Methoden, mit der ihre Bedenken beschwichtigt wurden. Seite 167: Der Chan Georgiens war in Wirklichkeit ein König aus dem Hause der Bagratiden. Seite 177: Der belgische Patriotenführer hieß Van der Noot, nicht Van der Toot. Seite 181: Bischoffwerder, nicht Bischoffswerder. Seite 186: Targowica nicht Targo-witz. Kosciuszko, nicht Kosciusko (der übrigens damals unter dem Fürsten Jozef Poniatowski kämpfte, nicht aber befehligte). Seite 230: Der rätselhafte „Recez germanique“ ist mit dem „Reichsdeputations-hauptrecess“ identisch (swere sprakf). Seite 251: Metternich war nicht, wie Droz meint, „descendant de Kaunitz“, sondern nur, in erster Ehe, Gatte einer Enkelin des Staatskanzlers Kaunitz. Seite 256: Karl XVIII. von Schweden muß sich mit einer be-' scheideneren Zahl begnügen, als Karl XIII. Seite 259: Die Ausführungen über die angebliche Frankreichfeindschaft der polnischen Szlachta sind blühender Unsinn. Droz sollte, wenn nichts anderes, Mickie-wiezs unsterblichen „Pan Tadeusz“ in Cazins französischer Uebersetzung lesen, um sich vom Gegenteil seiner Behauptungen zu überzeugen. Seite 289: Wir wissen längst, seit 193 5, daß die Heilige Allianz auf Metternich zurückgeht, der den Gedanken geschickt durch Mittelsmänner (oder Mittelsfraucn) Alexander l. zuschob, ohne daß dieser den Urheber ahnte. Seite 299; Castlereagh hat sich den Tod gegeben, nicht weil er der parlamentarischen Kämpfe müde war, sondern in einem seiner häufigen Anfälle von Geisteskrankheit, die ihn zum Beispiel in seinen Pferden zur Ueberwachung gedungene Spione wähnen ließ. Seite 343: Mierolavski (Polnisch... noch sverere sprak) ist mit Mierosiawski identisch. Seite 357: Windisgraetz mit Windisch-Graetz. Seite 368: Napoleon I. war nicht „Grand-oncle“ Napoleons III., sondern — wenn überhaupt — grand oncle, ein großer Oheim und nicht Großoheim des kleineren und von Droz viel zu günstig beurteilten Napoleon Iii. Seite 3721: Nikolaus schrieb nicht an ebendicsen neugebackenen Kaiser „Monsieur et bon aini“, sondern „Grand et bon Ami“, wie das im Protokoll zwischen Monarchen und Präsidenten üblich ist. Kronenträger aber schreiben einander nicht, wie unser Verfasser glaubt, „Monsieur et bon ami“, sondern „Monsieur Mon Fröre“ und sie unterzeichnen „de Votre Majeste le bon Fröre“. Seite 385 : — mit den Bonapartes ist's ein Kreuz — Prinz Napoleon war nicht Neffe, sondern Vetter des Kaisers Napoleon III., Sohn Jerömes, des Königs „Immer lustik“ von Westfalen, der seinerseits Bruder des Großen Korsen und auch Ludwigs Königs von Holland, des gesetzlichen Vaters Napoleons III. war. Seite 423: Karl von Hohenzollern war 1870 Fürst, noch nicht König von Rumänien. Seite 439: Gyula Andrässy war nie Kanzler, nur k. u. k. Minister des A. h. Hauses und des Aeußern, Vorsitzender im Gemeinsamen Ministerrat. Seite 452: Das „Regiment de uhlands“ das Alfons XII., laut Droz, befehligte, war keineswegs eine Heerschar kriegerischer Schwaben-dichter, sondern ein Ulanenregiment, und das „com-lnandement“ des spanischen Königs war nicht effektiv, sondern ein leerer Ehrentitel, die sogenannte „Inhaberschaft“. Seite 453: Carol von Rumänien — viederum er — war „cousin“ Wilhelms I. nur, wenn man derlei Bezeichnung für eine Verwandtschaft etwa im zwanzigsten Grade gelten läßt. Seite 465: Buneau-Varilla recte Bunau-Varilla. Seite 471: Eckardtstein, nicht Eckardstein. Seite 4SI: Der langjährige k. u. k. Außenminister hieß Graf Golu-chowski und nicht Golutchovwski. Seiten 546/47: Kerinsky ist jedenfalls falsch; übliche französische Transkription Kerensky. Seite 549: Turm-Severin soll richtig lauten Turnu-Severin. Seite 551: Clemeneeau war stets sehr böse, wenn man ihm einen ihm nicht gehörigen Akzent auf dem ersten „e“ aufpickte, wie das Droz tut. Seite 565- Vielleicht die schönste Blüte aus einer Tragikomödie der Irrungen ist dies: „le chancelier K. Bauer en (aus der Anschlußidee) fait un des points de sa politique“. Unser verehrter Professor Droz verwechselt K(arl) Renner mit Otto Bauer, macht Otto Bauer zum Kanzler und gibt ihm Renners Vornamen.

Wir müssen darauf verzichten, die Bibliographie unter die Lupe zu nehmen Sie ist, in ihrer die französischen und allenfalls noch die englischen Sprachgrenzen überschreitenden Gesamtheit sehr schlecht für alles Oestliche, unzureichend für Deutsches und Italienisches.

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