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Eine Geschichte der russischen Literatur

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Da Interesse für russische Literatur hat bei den Deutschen etwa mit Turgenjew und Tolstoj angefangen und ist seitdem immer giößer geworden. Aehnlich wie Ibsen, Hamsun und Strindberg, verdankt bei den Russen Ljeskow erst den Deutschen seine Weltberühmtheit. Im Gegensatz zur französischen und englischen kennt man die russische Literatur lediglich aus Uebersetzungen, und das bedeutet, daß man den höchsten Sprachschatz, die Lyrik, nicht recht erfassen kann. Deutsche und Russen sind Nachbarvölker, die zusammen meist irgendeine Situation der Haßliebe bilden: der Deutsche bewundert am Russen das Elementare, wobei er ihn jedoch für einen Barbaren hält; der Russe aber bewundert am Deutschen die Ordnung, doch zugleich hält er ihn für stumpf.

Unser Interesse für russische Literatur steigerte sich womöglich noch mit der Sowjetrevolution (die von den Deutschen mitinszeniert worden war: sie schickten ja Lenin nach Rußland, sie lieferten jenen folgenreichen Tatareneinfall im plombierten Waggon). Daher gab es bei uns so manche russische Literaturgeschichten. Doch Literaturgeschichten sind nur selten selber auch Literaturkunstwerke, denn es ist schwer, Kunst über Kunst zu schaffen; solches ist eigentlich nur den Vätern dieser Wissenschaft, den Brüdern Schlegel und den Brüdern Grimm, gelungen. Eine Literaturgeschichte muß notwendig rubrizieren — wer aber unter eine Kategorie gestellt ist, dem wurde das Einmalige genommen. Auch das vorliegende Werk vermittelt nicht so sehr Geist als Wissen, dieses aber in wertvollstem Maße. Mit einem Bienenfleiß hat der Verfasser die Erkenntnisse und Ergebnisse der neuen, sehr tüchtigen russischen Literaturforschung verarbeitet, womit er dem Laien, der das alles ja gar nicht nachlesen kann, einen wirklichen Dienst leistet. Was er über die großen Russen des 19. Jahrhunderts sagt, ist neuartig und wohlfundiert.

Doch besonders interessiert natürlich, was er über die Sowjetliteratur zu berichten hat. Man gewinnt den Eindruck (den durch Lektüre bestätigten), daß die Russen ihr großes 19. Jahrhundert im 20., ihrem Sowjetjahrhundert, nicht wieder erreicht haben. Ihr größter Prosaist, Schölochow mit seinem „Stillen Don“, ist bei aller Begabung eben doch Tolstoj-Epigone, und ihre bedeutendsten Lyriker bleiben auch heute noch jene unglücklichen Jünglinge Jessenin und Majakowski, die sich im Grauen vor der Sowjetwirklichkeit das Leben genommen haben. Doch da Entscheidendste über die neue Zeit hat immer noch der zu den Symbolisten gehörige Alexander Blok gesagt: in seinen „Zwölf“ und seinen „Skythen“. Das war 1919.

Je kulturloser ein Land ist, desto weniger Entwicklung besitzt es. Entweder es steht still oder es bewegt sich nur hüpfend fort. Nun, Rußland war von je das Land der Plötzlichkeiten. Schon Puschkin klagt darüber: „Die Menschen entwickeln sich nicht bei uns“, so ähnlich schreibt er in einem Briefe, „kaum waren sie jung, so sind sie auch schon vertrocknet oder verfault.“ Auch ist das Gesetz der Entwicklung eines ganzen Volkes offenbar ein anderes als etwa das einer Pflanze: beim Kollektiv entwickelt sich weit öfter das Niedrigere aus dem Höheren, als umgekehrt. Zum Beispiel ist für viele Franzosen Francois Villon, ihr ältester Lyriker, auch ihr bester. Uebrigens kommt es ja auch bei einzelnen Menschen vor, daß ihr erstes Werk eben doch ihr bedeutendstes ist. Das wird am ehesten dort der Fall sein, wo die allgemeinen Bedingungen einer Entfaltung ungünstig sind. Gerade das aber scheint für Sowjetrußland zu gelten. Jünglinge schreiben dort bedeutende Werke, doch entweder nehmen sie sich dann das Leben oder sie überleben sich selbst, indem sie Routinearbeit liefern. Russische Autoren müssen Tendenzkunst schaffen. Nun hat es sehr wohl schon Tendenzkunst gegeben, die zugleich große Kunst war — es kommt eben auf die Tendenz an! Und das sieht doch jeder, daß im Weltbilde des Kommunismus weder Kunst noch Liebe ihren rechten Ort finden, und darum auch keinen rechten Platz im kommunistischen Staate. Im Sturm und Drange der leninistischen zwanziger Jahre wurde das noch nicht so deutlich, doch von allen literarischen Begabungen jener Zeit hat keine gehalten, was sie versprach. Und so kommt es zu dem Paradox, daß das 19. Jahrhundert, die Zeit des „schnöden Zarismus und ausbeuterischen Adels“, dennoch der Welt eine Literatur geschenkt hat, neben der die sowjetische bettelarm dasteht. „Mit der Literatur hapert es bei uns noch“, heißt es auf allen Parteikongressen. Es wird immer hapern, solange man nicht an Gott glaubt, weil erst der betende Mensch seine Bestimmung erfüllt. Eine Kunst, die vom Metaphysischen abgebunden ist, muß verkümmern. Dabei sind in Rußland die Schriftsteller so reich dotiert wie kaum irgendwo. Rußland hat sich von je durch die Kunst der Bestechung ausgezeichnet.

Das vorliegende Werk ist noch besonders brauchbar durch seine Hinweise auf diese oder jene wertvollen Schriften. Dabei möchte ich allerdings auf zwei kleine Lücken hinweisen: in dem Abschnitt Sowjetliteratur fehlt der satirische Roman „Die zwölf Stühle“ von llf und Petrow. Dessen Hauptfigur Ossip Bender ist nämlich die lebensvollste Gestalt der ganzen Sowjetliteratur. Ilf und Petrow sind denn auch später, in den dreißiger Jahren, prompt in der Versenkung verschwunden. Nicht genannt wird auch eines der interessantesten Werke der Emigrationsliteratur, nämlich Solonewitschs „Rußland hinterm Stacheldraht“ („Rossija w Konzlagere“). Ein Meisterwerk an Humor, Spannung und Schärfe der Beobachtung. Doch das sind kleine Schönheitsfehler, die den Wert des Ganzen nicht beeinträchtigen. Ein lesenswertes, zuverlässig informierendes Buch.

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