Ella Lingens über Gestapohaft und KZ: Eine Analyse ohne Hass und Rachsucht.
Am 31. Dezember 2002 ist eine Heilige gestorben, obwohl sie protestantisch-puritanisch aufgewachsen ist, nie religiös war, natürlich nicht katholisch kanonisiert wurde und durch diese Rezension auch in keiner Weise als christliche Vorzeigefrau reklamiert werden soll: Ella Lingens. Ihre 1947 geschriebenen Erinnerungen an Gestapohaft und Konzentrationslager zwischen 1942 und 1945 wurden von ihrem Journalisten-Sohn nach ihrem Tod überarbeitet und neu herausgegeben. Ein Dokument exemplarischer Menschlichkeit gerade deshalb, weil die Autorin keine Heldin aus sich macht.
Alle Schwarzweißmalerei, alle Selbstgerechtigkeit, die so manche Darstellung dieser Thematik tragisch entwerten, sind ihr fremd. Sie widerspricht massiv der Goldhagen-These, die meisten Deutschen (und Österreicher) seien "Hitlers willige Vollstrecker" gewesen: Widerstand, in jeder Form höchst riskant, sei "in breiten Bevölkerungskreisen" anzutreffen gewesen. Die NS-Zeit habe das einzige wirklich schlagende Argument für den Zölibat katholischer Priester geliefert. Demütigender als "offizielle" Exzesse seien oft Schläge, Fußtritte, Ohrfeigen nicht nur von SS-Wachen, sondern auch von Aufsehern aus dem Gefangenenkreis gewesen. "Der Umstand, dass jemand der Waffen-SS angehört hat, ist nicht zwangsläufig ein Verdikt über seinen Charakter."
Und dann Sätze wie diese: "Wir waren ungleich schlechter als das Ausland darüber informiert, was mit den Juden geschah. Man könnte, wenn man es zuspitzte, formulieren, dass das Ausland [...] schlimmer versagt hat als die österreichische und deutsche Bevölkerung, die lange Zeit nichts und dann längst nicht alles wusste." Daher müsse auch Waldheim nicht gelogen haben, als er behauptete, er habe über die Deportationen bei Saloniki nichts erfahren: "Nein, man muss nicht darüber gesprochen haben, weil man nicht einmal in Auschwitz so darüber gesprochen hat, dass jeder es hören musste. Man wollte so wenig wie möglich davon sprechen und so wenig wie möglich davon hören."
Das klingt jetzt so, als bestünde das ganze Buch nur aus Entschuldigungen und Beschönigungen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die leidenschaftliche Ablehnung des Nationalsozialismus, seiner brutalen Herrenmenschen-Ideologie und des Judenhasses steht bei Ella Lingens in jeder Zeile und für jeden, der sie kannte, außer Zweifel. Aber auch als selbst wegen "Judenbegünstigung" Verhaftete, Entrechtete, Gedemütigte ist sie mit fast unheimlicher Leidenschaft bemüht, Gerechtigkeit auch ihren Verfolgern und ein strenges Urteil auch ihren Schicksalsgenossinnen widerfahren zu lassen. Sie beschreibt das Abstumpfen der Gefühle, das Wachsen von Egoismus, den Zwang zu immer neuem Werten im täglichen Überlebenskampf und die heimtückische Konstruktion der Mordmaschinerie, die nie allein Schuldige oder allein für Rettung Zuständige entstehen ließ.
Nie ist sie einer starren Ideologie gefolgt, immer aber ihrem christlich (nicht religiös!) geprägten Gewissen - und hat oft genug erlebt, wie es strapaziert wurde. Bei der gefürchteten "Selektion" (Auswahl für die Gaskammern) neigte man dazu, die Schwachen zu verstecken - aber dadurch kamen Starke ins Gas, die vielleicht das Fleckfieber überlebt hätten, das dann die versteckten Schwachen tötete - und Ella Lingens mit 35 Jahren schlohweiß werden ließ.
Vor absoluten Helden, meint die Verfasserin, sollten wir niederknien - aber sie sind "die wunderbaren Ausnahmen" in jedem Land. "Von den Menschen wie du und ich', die Widerstand geleistet haben", müsse man einfachere Motive annehmen: eine Mischung von moralischer Überzeugung, Unterschätzung des Gegners und Überschätzung der eigenen Chancen. Wie sie denn ihrer Selbsteinschätzung nach das Grauen in Auschwitz und Dachau überlebt hat? Weil sie Ärztin, Arierin und Deutsche, und weil sie sehr schön war. Ich bleibe dabei: und alles in allem eine Heilige.
GEFANGENE DER ANGST - Ein Leben im Zeichen des Widerstandes
Von Ella Lingens, eingeleitet von P. M. Lingens. Deuticke Verlag, Wien 2003. 335 Seiten, geb., e 25,60
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