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Eine Jugend in der Bergheimat

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Zwanzig Jahre ist das jetzt her, daß der Unterzeichnete ah journalistischer Abgesandter des Hauses Herold in Weipert, der Geburtsstadt Kardinal Innitzers, Besuch machte. Das Ergebnis, seltene Bilder und Unterredungen mit den ältesten Freunden des Kardinals, hat dem Jubilar seinerzeit Freude gemacht. Da sich der „Verfasser heute auf einzelnes besinnen will, stockt er da und dort. So wie die harte Zeit seither alle Aufzeichnungen vernichtet hat, steht auch heute nicht mehr fest, wer von den Menschen noch lebt und welches Haus noch steht — wie damals. Es ist alles so anders geworden. Wie, wie war's denn nur damals?

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Zwanzig Jahre ist das jetzt her, daß der Unterzeichnete ah journalistischer Abgesandter des Hauses Herold in Weipert, der Geburtsstadt Kardinal Innitzers, Besuch machte. Das Ergebnis, seltene Bilder und Unterredungen mit den ältesten Freunden des Kardinals, hat dem Jubilar seinerzeit Freude gemacht. Da sich der „Verfasser heute auf einzelnes besinnen will, stockt er da und dort. So wie die harte Zeit seither alle Aufzeichnungen vernichtet hat, steht auch heute nicht mehr fest, wer von den Menschen noch lebt und welches Haus noch steht — wie damals. Es ist alles so anders geworden. Wie, wie war's denn nur damals?

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Das war in Weipert, im Dezember 1935: Der Winter ist so rauh und hart da oben wie das ganze Leben der Arbeiter im Erzgebirge. Dann kann der Sturm eisig über die Hänge der Bergstadt Weipert pfeifen und den Schnee meterhoch um die Telegraphenstangen häufen. Jetzt fi eilich gibt es noch wunderbare stille Dezemberabende, an denen die Sterne hoch am Adventhimmel stehen. Ein Wintermärchen! Tiefverschneit klettern die Häuser bis zu den Fichtenwäldern hinauf, brennend rot leuchten die Adventsterne vor den Hütten, aus tausend Lichteraugen der Fabriken schaut Menschenarbeit und Menschenschicksal in das Dunkel der Nacht.

Menschenschicksal.' Wie viele Augen der betriebsamen, zwölftausend Einwohner zählenden Industriestadt sind in der Not und Krise der dreißiger Jahre müde und blind geworden! Geht man erst tiefer in den Abend der Stadt hinein, sieht man ihre verweinten Augenhöhlen in den grauen, vergrämten Gesichtern abbröckelnder Gebäude.

Aber, wenn der Morgen wieder da ist, starrt wieder der harte Wille zu Fleiß und Leben in die Luft: Schlote, Schlote, Schlote. Auch wenn sie nicht mehr rauchen, spürt man noch seltsam bewegt den Glauben und die Hoffnung an ihnen. Es ist, als ob sich die starken Arme dieses zähen, fleißigen Volkes zum - Himmel erhöben, trotzig und demütig zugleich, betend und arbeitend.

Das ist Weipert (Weipert-Grund, Weipert-Stadt und Neugeschrei), das schönste Triptychon im Landschaftsbild des Erzgebirges, die Stadt, in der am Christtag des Jahres 1875 den Arbeiterleuten Wilhelm und Marie Innitzer ein Sohn geboren wurde. Er erhielt in der Taufe den Namen Theodor Johann und war im Leben zu Besonderem bestimmt.

Die Wiege ist nicht mehr da, vielleicht hat sie in einem schlimmen Winter ein paar Stunden Wärme geschenkt. Aber das waldumrauschte Haus steht noch so wie im Jahre 1800, als es erbaut wurde, so wie es der kleine Theodor in Kindheit und Jugend erlebt hat.

Haus Nr. 362 am Südrand von Neugeschrei ist ein richtiges altes Erzgebirglerhaus. Einstöckig, die Mauern noch aus Lehm und Stroh, ein Schindeldach, winzige Fenster in den Stuben und niedere Decken, die beiden Stockwerke durch eine erschütternd steile und enge Holztreppe verbunden, die im Leben der Mutter des Kardinals eine grausame Rolle spielte. Ein kleines Gärtchen, ein Sonnenstrahl im kargen Arbeiterleben, senkt sich sanft zum Pöhlbach hinab. Vom Zaun bis zum Bach ist es keinen Steinwurf weit — und das andere Ufer des Baches ist schon Sachsenland. So hart an der Grenze zweier großer Reiche stand die Wiege des Erz-bischofs von Wien.

Ich weiß noch, daß damals wieder eine Arbeiterfamilie (Verwandte des Kardinals) darin wohnte und so wie in den siebziger Jahren wieder Kinder durch die Wohnstube tollten. Dort haben sich freilich auch die unermüdlichen Hände der Eltern an Bank und Webstuhl blutig gearbeitet. Der Blick ging durchs Fenster über die Straße ( auf den Keilberg zum nahen Wald hin. Und mit einem Male versinkt der graue Dezembertag und es ist wieder Frühling, der Lebensfrühling eines Menschenschicksals.

Da wandert ein Bub mit dem rohen Holzkästchen auf dem Rücken (unserer feinen Schultasche von heute) zur Schule, deren Aufgaben er mühelos und vorbildlich leistet. Da schlüpft das Grenzkind in freien Stunden in kindlich tiefsinnigem Spiel am Mühlgraben in die Maske des Finanzers und überlistet die unheimlichen Pascher. Oder Theodor sitzt am Waldrand, hütet die Ziegen und träumt. Er weiß nicht, daß die Straße da vor ihm einmal seinen Namen tragen wird.

An schulfreien Nachmittagen geht er gerne zu seinem Schulkameraden Eduard Langer „zu

Rocken“, wie man dort oben ein Plauderstündchen nennt. Freiiich gibt es nicht zuviel Freizeit. Immer wieder werden die Kinder im Hause zu den Posamentrie-Handarbeiten herangezogen. Hier wird Theodor ein kleiner Meister im „Plöckeln“, einer mühseligen, kunstgerechten Schlingarbeit. Aber schon damals träumt der kleine Theodor davon, einmal Priester zu werden. Das ist nicht leicht für einen Buben einer Armenleutfamilie. Aber dieser Bub wird das Ziel und noch mehr erreichen.

Von Kardinal Innitzers Geburtshaus zum Bahnhof zu Neugeschrei führte der Weg damals an der Posamentriefabrik Brüder Kanne-b e r g e r vorüber, in welcher der Bruder des Kardinals, Direktor Wenzel Innitzer, als Mitteilhaber eine geachtete Stellung bekleidete. In der nahen Wohnung der Innitzers habe ich damals einen wunderbaren Nachmittag verlebt, zusammen mit der Familie Wenzel Innitzer und dem jungen Kaplan der Pfarrexpositur Neugeschrei, in deren neuer Kirche der junge Priester Innitzer am 3. August 1902 als erster Primiziant das erste heilige Meßopfer las.

Von den Volksschullehrern Kardinal Innitzers lebten damals noch zwei in Weipert: Direktor Josef Wild erinnert sich gerne an seine zwei berühmtesten Schüler, den Dresdner Maler Richard Müller und den Wiener Kirchenfürsten Kardinal Innitzer. Direktor Wild hatte den kleinen Theodor im Schuljahr 1885/86 als Schüler und wußte mir von seinen raschen autgeweckten Antworten zu erzählen. Am Koppenweg traf ich noch einen ehemaligen Turnlehrer: Johann G o ß 1 e r ; in Kaaden, wo der junge Theodor das Gymnasium besuchte, lebte damals noch einer seiner Professoren, Schulrat Hof mann. Sonst deckte auch damals schon die Lehrer alle der Rasen; auch den Oberlehrer H i n z, der mit Dechant H o r a und dessen Bruder dem begabten Theodor den Weg zum A4 ittelschul Studium bahnte.

Mit 14 Jahren hatte der junge Innitzer die Volksschule in Neugeschrei beendet. Aber erst nach einem Jahr (1890), in das auch ein kurzes Zwischenspiel als Fabrikarbeiter fällt, gelang es diesen Männern, dem lerneifrigen und hochbegabten Knaben wenigstens die notwendigsten Kreuzer für das Gymnasialstudium aufzutreiben. Es ging trotzdem noch hart genug her auf einem bescheidenen Kostplatz. Erst vals Theodor als Hauslehrer in die Familie von Schwarzfeld einzog, wurde das Leben gütiger. Die drei Privatschüler in der hochherzigen Familie haben aber auch ihrem Hofmeister alle Ehre gemacht, der eine wurde Bürgermeister von Karlsbad, die beiden anderen bekannte Juristen in Prag und Kaaden.

An einem sonnenhellen Dezembervormittag wandern wir über den Koppenweg zu dem schöngelegenen Bergfriedhof von Weipert. Weit geht der Blick über die schneeglitzernde Stadt zum Bärenstein.

Tiefverschneit liegt das Grab der Eltern Kardinal Innitzers da. Ihre Kinder haben ihnen ein einfaches Denkmal in schwarzem Marmor gesetzt, das die Worte trägt: „Hier ruhen in Gott unsere lieben Eltern Wilhelm und Marie Innitzer. Vereint im Leben, vereint im Tode, Lebet in Gott!“

Dieser Spruch hat einen ergreifenden Doppelsinn, den die Zahlen auf dem Grabstein verraten. Kardinal Innitzers Mutter, geboren am 7. Dezember 1843, starb am 8. Jänner 1927. Der Vater, geboren am 17. April 1847, starb am 12. Jänner 1927, also nur vier Tage nach dem Tode der Gattin.

Ein hartes Leben hat sie aneinander-geschmiedet — ein barmherziger Tod hat sie in ein- und derselben Woche erlöst. Der Vater war in den letzten Jahren erblindet, die Mutter war von der steilen Holztreppe des Wohnhauses abgerutscht und hatte dabei einen komplizierten Beinbruch erlitten, der trotz der Amputation des Fußes nach Jahren des Siechtums schließlich den Tod der Frau herbeiführte.

Darum Ist dieses Denkmal der Liebe auch ein Denkmal gottergebener Geduld.

Die Stätten seiner Jugend hat Kardinal Innitzer noch oft und oft besucht, als ihn die Weiperter und Neugeschreier längst nur noch als „Herrn Professor“ kannten.

Außer diesen allen hat Kardinal Innitzer einen Besuch niemals vergessen: bei einem seiner ältesten und treuesten Freunde, Dechant Kon-sistorialrat Karl Putzer, den weit und breit geachteten und geliebten Ffarrherrn der herrlichen Dekanalkirche in Weipert, in der Theodor Johann Innitzer in den Weihnachtstagen des Jahres 1875 aus der Taufe gehoben wurde.

Auch der Autor dieser Zeilen dankt diesem wunderbaren Manne einige unvergeßliche Tage liebenswürdigster Gastfreundschaft. Sogar ein kleines „Kardinal-Histörchen“ hat er von dort mit nach Hause genommen. In dem Zimmer, in dem er vor zwanzig Jahren schlief, hat auch Kardinal Innitzer bei Besuchen Stunden und Tage verbracht. Im Jahre 1927 schlief der hohe Gast einmal so tief und fest, daß Einschleicher das Vorzimmer gründlich ausräumen konnten und unter anderem auch den guten, den besten Anzug des Pfarrherrn mitnahmen. Seither pflegte Dechant Putzer seinen geliebten geistlichen Freund an den Zwischenfall mit den launigen Worten zu erinnern: „Du bist mir noch einen Anzug schuldig!“

Es ist vielleicht das einzige, das Wiens Oberhirte seinen Eltern und Erziehern, Lehrern und Freunden in Weipert schuldig geblieben ist.

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