"EINE KAM UND FLOG ÜBERS KUCKUCKSNEST"

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DANIELA EMMINGERS KURZWEILIGER ROMAN "SCHWUND" THEMATISIERT VERGÄNGLICHKEIT UND STERBEN.

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DANIELA EMMINGERS KURZWEILIGER ROMAN "SCHWUND" THEMATISIERT VERGÄNGLICHKEIT UND STERBEN.

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Karla König lässt sich von ihrer Tochter Anni aus dem Krankenhaus entführen. Schwer an Diabetes erkrankt, blind und von der täglichen Dialyse abhängig, wartet nur noch der Tod auf sie. Die gemeinsame Flucht soll Mutter und Tochter einander näher bringen. Also rein ins Auto und ab auf die Alm nach Kärnten. Das Handy wird ausgeschaltet, Ehemann Gustav bekommt einen Abschiedsbrief. Wie lange Karla ohne Dialyse überleben kann, wissen beide nicht. Annis Mutter hat das Pech, in Österreich zu leben, wo Sterbehilfe verboten ist - als "last exit" warten "die Niederlande, Belgien und Luxemburg oder ein Sterbetouriticket in die Schweiz".

Nach ihrem ersten längeren Prosatext, "Leben für Anfänger", erschienen 2004, hat sich Daniela Emminger Zeit gelassen für ihren Debütroman "Schwund". Man merkt, dass die 1975 geborene Oberösterreicherin ihr Geld mit dem Schreiben ganz unterschiedlicher Textsorten verdient. Sie arbeitete als Werbetexterin, mittlerweile ist sie freie Journalistin und Kommunikationsberaterin. Vielseitig und nicht leicht festzulegen ist auch der Roman: tragisch-komisch, kurzweilig, aber dennoch nicht ohne Tiefgang.

Literarischer Roadtrip

Nach einem rasant-witzigen Start bricht der Roman etwas ein und es werden allzu viele Lebensweisheiten an den Leser gebracht, was ein wenig auf Kosten des Erzählens geht. Diese kurze Durststrecke ist aber schnell überbrückt und dann wird es erfreulich skurril. Denn auf der Alm hält es Mutter und Tochter König nur kurz, es tut sich keine Wand auf, die die beiden von der restlichen Welt isoliert, nein, es beginnt im Gegenteil ein surrealer Roadtrip, der die beiden nicht nur bis Lourdes, sondern quer durch Raum und Zeit führt. Zunächst aber landen Anna und Karla auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit im bayerischen Amerang. Da sitzt plötzlich, eine schöne Referenz auf Mira Lobes Kinderbuchklassiker, Annis tote Großmutter in Mädchengestalt im Apfelbaum und begleitet das Gespann fortan. Und so wie die erfundene Omama bei Lobe ein familiäres Defizit füllen soll, ist sie auch hier eine emotionale Krücke, um mit dem Verlust, dem Schwund, umgehen zu lernen.

Das Fantastische bricht plötzlich in die zunächst realistische Erzählung ein, nicht kafkaesk, eher wie ein Sprung ins Kaninchenloch. Zweifelt die Protagonistin zunächst an ihrem Geisteszustand, so löst das Fantastisch-Absurde bald die Realität ab und wie in Carrolls Referenztext ist die Frage müßig, ob es sich nun um einen Traum oder eine Flucht in die Imagination handelt.

Wie es sich für das Genre des literarischen Roadtrips gehört, kommt ein buntes Figurenensemble zum Auftritt. Albert Einstein organisiert mal eben ein Raumschiff, ("ein nagelneues noch dazu"), Vico von Bülow alias Loriot verbreitet Heiterkeit und Hildegard von Bingen besteht darauf, Jesus kennenzulernen, "was sich schwierig gestalten konnte, war bis heute nicht zu hundert Prozent geklärt, wann und wo dieser genau geboren wurde".

Also doch lieber Michael Jackson besuchen, ist Willi Dungl doch davon überzeugt, "dem King of Pop mit Hilfe seiner mentalen Ansätze helfen" zu können. Kurze Episoden wechseln einander ab, unterbrochen von ernsten Einschüben. Berührend ist etwa die Schilderung von Gustavs Kinobesuch, der sich Hanekes "Amour/Liebe" "ansieht" und sich selbst darin wiederfindet.

"Schwund" nimmt Anleihen am Pop-Roman, verweist auf Kultfilme und Songtitel, zitiert Einstein und Willi Dungl fast in einem Atemzug und liest sich stellenweise so visuell wie ein Comic. Das wirkt wie ein wildes Durcheinander, doch bei allem erzählerischen Übermut, den Emminger hier an den Tag legt, verhandelt das karnevaleske Treiben eigentlich die Frage, wie man dem Sterben und der Vergänglichkeit, der eigenen und jener von Angehörigen, begegnen kann. Mit wissenschaftlicher Rationalität? Mit Religion? Spiritualität? Oder wie Gustav, über Identifikation mit der Kunst? Die Antwort des Textes ist in jedem Fall Humor: "Humor war eine Begabung, die das Leben leichter machte. Humor verband. Humor war, wenn man trotzdem lachte."

Kitsch und Realismus

Das Motiv der Reise ist immer auch verbunden mit jenem der Sinnsuche, was durch das absurde Szenario zugleich befördert und unterminiert wird, zwingt es einen doch dazu, beständig verstehen zu wollen, ohne dieses Bedürfnis jemals tatsächlich zu befriedigen: "Ganz offensichtlich mussten sie diese Welt des Chaos verstehen lernen, wenn sie weiterkommen wollten."

Erinnert fühlt man sich indes auch an François Lelords Bestseller "Hektors Reise oder die Suche nach dem Glück". Das ist auch ein Problem des Textes: Stellenweise agiert er zu epigonal und zu wenig originell, was bei dem Einfallsreichtum der Autorin gar nicht nötig ist. Der Spagat zwischen popkulturellen Anspielungen, flapsigen Wortspielen und den ernsten Themen Krankheit, Verlust und Tod funktioniert dennoch erstaunlich gut. Der Text spiegelt die ambivalenten Gefühle und Phasen, wenn jemand schwer erkrankt und gepflegt werden muss. Den Schmerz, die Monotonie der pflegerischen Routinen, die Anstrengung aber eben auch Momente der Nähe und kleine Freuden. In einer Szene reserviert Anni Kinokarten für zwei Schmachtfetzen und zwei Filme von Ulrich Seidl, was man als Selbstbeschreibung des Textes lesen kann. Ein bisschen märchenhafter Kitsch gepaart mit schmerzhaftem Realismus. Das Konzept geht auf - sofern man nichts gegen ein bisschen Kitsch und Lebensweisheiten einzuwenden hat.

Schwund

Roman von Daniela Emminger

Klever 2014

184 S., geb., € 19,90

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