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Eine neue Weltmacht im Werden

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„Wenn wir nach außen mit Erfolg verteidigen wollen, müssen wir zunächst im Innern Frieden halten. Das größte Unglück unseres Landes liegt darin, daß die Menschen kein klares Ziel und keine Initiative haben. Ernsthafte Anstrengungen können sie nicht ertragen. Deshalb sind die fremden Mächte so tief in unser Land eingedrungen; Unordnung und Gewalttätigkeit nehmen zu. Ich hoffe, daß alle unsere Landsleute vor keiner Schwierigkeit zurückschrecken und allen Anforderungen gewachsen sein werden. Entschlossene Arbeit, Disziplin und Verantwortungsbewußtsein sind erforderlich, um die augenblickliche Not zu überwinden.

14. Marx 1934, Tsctaiang-Kal-Schek

Durch China schreitet die neue Zeit. Im Guten und im Bösen. Derselbe Wind wiegt zwar noch die behäbigen, mit bunten Segeln bestückten Drachendschunken auf den großen Strömen des Landes und streicht dann landeinwärts über seit undenklichen Zeiten gleichbebaute Reisplantagen. Noch beleben die Lößlandschaften Siedlungen, die ihren Charakter seit einem Jahrtausend nicht verändert haben. Das Volk ist aber nicht mehr dasselbe. Dem Europäer konnte diese Tatsache nicht verborgen bleiben. Die Nachkriegszeit, deren Sorgen und Probleme das neue Europa mit einer chinesischen Mauer umschloß, verwischte dem kritischen Beobachter das Blickfeld. Es gibt so etwas wie einen europäischen Egoismus, der die Menschen des alten Kontinents verleitet, sich für den unveränderlichen Mittelpunkt der Welt zu halten. In diesem Zustand bemerken sie gar nicht, daß das uneinige Europa einem Schifflein mit meuternder Mannschaft gleicht, das in dem von allen Seiten aufbrausenden Wogenschwall neuer riesiger, geeinter Gebiete unterzugehen droht. China ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. 400 Millionen Chinesen wurden in den Verwüstungen der Bürgerkriege, im Kampf gegen die feindliche Invasion und zwischen den Mahlsteinen roter und weißer Fronten zum Nationalgeist erzogen. Rußland und Amerika sind sich dieser Entwicklung wohl bewußt. Als die Außenminister in Moskau zusammentrafen, um den Frieden mit Österreich und Deutschland zu beraten, riß Molo-tow schon in der ersten Sitzung den Vorhang zur Hauptbühne der Weltpolitik auf und vorlangte als vordringlichsten Punkt eine eingehende Behandlung der chinesischen Frage, Mit gleicher Schnelligkeit zog Außenminister Marshall den Vorhang wieder zu.

Seit über zwanzig Jahren wird nun in dem geopolitischen Räume Chinas gekämpft. Geo-politisch deswegen, weil auch während dieser Zeit dem Reich der Mitte Gebiete zugezählt wurden, über die es machtmäßig nie mehr verfügen wird, wie zum Beispiel Tibet oder die Innere Mongolei. Auch in dem Raum, den die Regierung in Nanking zentral zu beherrschen versuchte, wechselten die tatsächlich unter ihrer Oberhoheit stehenden Provinzen ständig. Wie farbige Steinchen bei jeder Drehung des Kaleidoskops ein neues Mosaik ergeben, so veränderte sich das politische Bild Chinas. Aus diesem Grunde war Tschiang-Kai-Schek genötigt, nachdem er sich im Jahre 1927 die Führung in der nationalchinesischen Partei — der „Kuo-Min-Tang“ — erkämpft hatte, in kurzer Folge neun Bürgerkriege, dann als Teilhaber einen Weltkrieg zu führen. Auch heute ist das Land noch nicht zur Ruhe gekommen. Aber in dem gleichen Gebiet, in dem früher unzählige Generale sich ihrer Privatinteressen wegen befehdeten, läuft heute eine Schützengrabenlinie, die zwei verschiedene Weltanschauungen trennt. Während der innere Kampf noch mit unverminderter Heftigkeit tobt, hat sich schon eine tiefgreifende Wandlung des Volkes vollzogen.

Als bei der Kapitulation Japans an Bord des amerikanischen Schlachtschiffes „Missouri“ zugleich mit den Fahnen der traditionellen Großen der blauumrandete Stern auf rotem Feld des nationalen Chinas an der Gaffel hochging, wurde es jedem klar, daß das Konzert der Mächte Zuwachs bekommen hatte. Als Kolonialland war China für sie verloren, und die Staaten bemühten sich, in der Folgezeit wenigstens ihren Einfluß zu bewahren. Die ungezählten autonomen Herrscher und Provinzmandarine waren verschwunden, aufgesogen entweder von der Zentralregierung oder ihrem kommunistischen Gegenspieler. Denn keine der beiden Gruppen duldete neben sich andere innere Nebenbuhler. Wer die chinesische politische Taktik im Verlaufe der letzten Jahre verfolgt hat, muß auch vorsichtig sein in dem Urteil, daß das eine oder andere Lager für die Interessen dieser oder jener Großmacht kämpfe. Sowohl Tschiang-Kai-Schek als auch der Führer des linken Lagers, General M a, ziehen ihre Kraft von der gleichen innerpolitischen Quelle: beide betrachten sich als die wahren Nachfolger des chinesischen Revolutionsapostels Sun-Ya-Tsen. Desselben Sun-Ya-Tsen, der gleichermaßen den russisch influenzierten Kommunismus als auch den Feudalliberalismus des Westens für sein Land ablehnte. Hüben und drüben der Schützenlinie scheint sich aber die Führung darüber einig zu sein, daß China dazu berufen ist, an Stelle Japans eine weitgesteckte Asienpolitik zu betreiben. Die eine Seite erwartet sich die Hilfe zur Realisierung dieser Pläne vom Osten, vom privatkapitalistischen Amerika, die andere vom Westen, vom staatskapitalistischen Rußland. Wohin sich die außenpolitische Spitze des Siegers aus diesem Kampf richten wird, ist mehr als ungewiß.

Wie immer auch der Bürgerkrieg ausgehen mag, es ist unbestritten, daß Marschall Tschiang-Kai-Schek der wirkliche Erneuerer Chinas ist. In zwi Jahrzehnten schuf er aus dem Nichts eine zentrale Macht, die in politischer, gesetzgeberischer und wirtschaftlicher Hinsicht die gesamte chinesische. Gesellschaftsordnung änderte. Er durchbrach den chinesischen Mikrokosmos, der als einzig bestehende und alle Stürme überdauernde Institution, die auf sich selbst und in sich selbst geschlossene Familie anerkannte, durch die nationale Idee eines geeinten Volkes. Die im unumschränkten Patriarchat des Pater familias wurzelnde Gesetzgebung ersetzte er durch ein nach westlichem Muster geformtes bürgerliches und Strafgesetz. Sein Finanzminister, Sung-Voo, zerbrach das Zollsystem, und beendete die Verpfändung von Staatseinkünften an andere Staaten, die praktisch China wirtschaftlich abhängig machte. An Stelle der verschiedenen Provinzfinanzgebarungen, die der Korruption freien Lauf ließen, schuf er ein zentrales Finanzsystem. Sicherlich wies diese Regierung auch viele Schwächen der Diktatur auf. Aber zwei Jahre nach Beendigung des Krieges mit Japan, im Zenit seiner Macht, wagte Tschiang-Kai-Schek einen Schritt, den keiner seiner europäischen Kollegen getan hatte. Vor einigen Wochen beendigte er durch eine von der Jungchinesischen Partei, den demokratischen Sozialisten und den Unabhängigen feierlich unterzeichnete Urkunde, die bis dahin bestehende Einparteienherrscltaft des Kuo-Min-Tang. Die einzelnen Fraktionen bestätigten mit ihrer Unterschrift, daß die Herrschaft der Macht durch die Herrschaft des Rechts abgelöst werden sollte. Ein Staatsrat wurde eingesetzt,der aus 17 Mitgliedern des Kuo-Min-Tang und je 4 Mitgliedern der anderen Parteien besteht. Und um anzudeuten, daß dieser neue Rat ganz China umfasse, wurden auch für die Gegner Sitze vorbereitet. Aber die zehn Sessel der Kommunisten blieben leer. Man muß dazufügen „vorläufig“, denn seit der Abreise des General Marshall, der jahrelang höfliche, aber vollkommen fruchtlose Vermittlungsversuche durchführte, hatten sich die Aussichten Tschiang-Kai-Scheks, den Gegner militärisch zu besiegen, verschlechtert. Die Abreise des „Weisen“ —* wie ihn die Chinesen nannten — war mit einer starken Herabminderung der amerikanischen Hilfe verbunden. Die Entscheidung wird daher wahrscheinlich auf dem politischen Verhandlungsgebiet fallen, und man hört Gerüchte, daß Waffenstillstandsverhandlungen gepflogen werden. Dann werden vielleicht auch die restlichen zehn Sessel besetzt werden.

Auf Betreiben des chinesischen Marschalls trat auch der Premierminister zurück. Und er empfahl gleich dem Staatsrat und stellte als Nachfolger seinen Freund aus den gemeinsamen Kriegsschuljahren in Japan, den Gouverneur einer der reichsten chinesischen Provinzen — Sezuan — Chang-C h u n vor. Wohin dieser Schritt der Demokratisierung der Diktatur führen wird und wie rnst die Maßnahmen gemeint sind, kann noch nicht abgeschätzt werden. Sicher spielte die Erklärung der USA eine große Rolle, die China - mitteilten, daß die von ihm geforderten 500 Millionen Dollar der Ex- und Importbank nur einer demokratischen Regierung zur Verfügung gestellt werden könnten. Denn China braucht diesen Kredit zur Stützung seiner Währung. Der amerikanische Dollar, der im Juli 1946 noch mit 20.000 chinesischen Dollar bezahlt wurde, wird heute bereits mit 70.000 gehandelt. Der Export ist auf einem Tiefpunkt angelangt. In1 den Staatskassen ist kein Geld mehr vorhanden. Der Sog des Krieges droht alles neu Geschaffene in den Abgrund zu ziehen. Auch die Meinung der drei amerikanischen Fernostspezialisten — Harley Mac Nairs,' des früheren Beraters des chinesischen Marschalls, Hoover, des Direktors der Kriegsbibliothek der USA, und Dulles —, die die amerikanische Politik als zu einseitig Kuo-Min-Tang-freundlich kritisierten, mag schwer in di Waagschale des Mehrparteiensystems gewogen haben. Maßgebend aber war sicher det Wunsch Tschiang-Kai-Scheks, die Verantwortung auf breitere Schultern aufzuteilen. Der formellen Unterzeichnung folgte auch sofort ein beachtenswerter praktischer Schritt: das Büro für Nachforschung und Statistik — das Amt der geheimen Staatspolizei der Kuo Min-Tang — wurde aufgelöst.

Bis zur endgültigen Stabilisierung Chinas wird noch viel Zeit vergehen. Ein gewaltiger Schritt nach vorwärts ist aber getan worden. So wie Japan die erste europäische Auseinandersetzung dazu benützte, um über Trümmer zur Weltmacht aufzusteigen, ebenso ist das ausgeblutete in die Knie gezwungene Europa das Fundament für die Auferstehung Chinas. Die 400 Millionen Chinesen werden vielleicht einmal dcn Spuren eines neuen Dschingis-Chans nach dem Westen folgen, vielleicht werden aber auch die geeinigten * 18 Provinzen von den Kalmückensteppen bis zu den chinesisdien Meeren den Frieden sichern. Die europäischen Staaten WeVaen klug genug sein, ihre Beziehungen zu dieser neuen Macht in geregelte, freundschaftliche Bahnen zu bringen.

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