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Eine notwendige Korrektur

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Zahlreich waren die Aufsätze und Reportagen,.. die, die Tagespr.esse im vergangenen Jahr dem „Akademikerproblem“ gewidmet hat. In grellen Farben gemalte Stimmungsbilder der sozialen Not des jungen Akademikers .erschienen vor unseren Augen. Es wurde ausgesprochen, daß von den dreißig- bis fünfunddreißigtausend . Studenten, die heute die Hörsäle unserer Hochschulen bevölkern, höchstens die Hälfte einmal in einem Beruf Unterkommen würde, der ihrer aka-. demischen Bildung entspräche. Die im pausenlosen Kleinkrieg um ihren Platz im Berufsleben stehenden und unter der wachsenden Berufsnot leidenden jungen Akademiker haben aber der klugen Untersuchungen genug. Was sie wollen und was dringend not tut, ist die helfende Hand, die aus der Erkenntnis entsprungene Heilmethode.

Die Therapie zur Wiedergesundung ist ein sehr dringlidies Gebot, sollen nicht aus den Proletariern mit dem Doktorhut von morgen sich schon übermorgen die Standartenführer neuer Radikalismen von links oder rechts rekrutieren. Doch der gordische Knoten der zum Problem gewordenen heutigen Situation unserer Akademikerschaft ist nicht mit einem Schlag zu durchhauen, nicht mit Erlässen und Dekretierungen von oben zu lösen.

Vor kurzer Zeit entwidcelte Professor Dr. Max Pietsch vor Wiener Studenten und Akademikern seine Gedankengänge zum Gegenstand. Dem Professor der Technischen Hochschule in Graz hat das Paradoxe der Situation zu denken gegeben. Auf der ganzen Welt wird heute geistige Arbeit unterbewertet. In der Lohnskala findet bei uns diese Unterbewertung ihren besten Ausdruck, da ein Mittelschullehrer auf der gleichen Lohnstufe wie ein Hilfsarbeiter steht, oder, um noch ein anderes bekanntes Beispiel zu erwähnen, da auch ein Universitätsprofessor mindestens 50 Jahre alt werden muß, um sich budgetär mit dem Einkommen eines qualifizierten Facharbeiters messen zu können. Und trotzdem ist der breite Strom derjenigen, die in einer akademischen Bildung ihr Heil, ihre Zukunft und ihre Berufsvorbereitung sehen, bis zum heutigen Tage nicht abgeebbt. Und trotzdem halten sich heute ungefähr 60 Prozent aller Studenten durch Nachhilfestunden, Nebenberufe und Gelegenheitsarbeiten jahrelang ü’ber dem Wasserspiegel des Existenzminimums, nur um einen akademischen Grad zu erwerben und um einmal als junge Ingenieure neidvoll auf die finanzkräftigeren Hilfsarbeiter ihrer Baustelle zu blicken oder als junge Juristen durch Jahre vom schmalen Geldsack ihrer Eltern zu leben. Wirklich ein Paradoxon, würdig den vielen anderen Widersprüchen, aus denen unsere Zeit zusammengesetzt ist.

Vielleicht aber ist diese Tatsache aus einem unstillbaren Wissensdurst, aus einem nicht zu brechenden Streben nach Erkenntnis, nach Erweiterung des. geistigen Horizonts und Vertiefung der Bildung zu erklären und zu . begründen? Nur ein aus völliger Unkenntnis der wirklichen Situation und der tatsächlichen Gründe entstandener blinder Optimismus könnte diese Frage mit Ja beantworten. Wenn wir aber ehrlich, das Gewissen nnserer Studenten erforschen, kommen wir zu der Erkenntnis, daß ungefähr 70 Prozent von ihnen „Brotstudenten“ sind, das heißt, ihr Studium ist für sie nur das Mittel zum Zweck der Berufsvorbereitung. Professor Pietsch drückt sich härter, vielleicht auch offener aus. Er spricht von einer Flucht aus der Urproduktion und von dem „Streben nach einem Schreibtischberuf“. Die Symptome dieser Zeiterscheinung finden wir aber überall, angefangen vom Facharbeiter, der, obwohl er eine Lohneinbuße erleidet, von. der Maschine zum Schreibtisch des Kalkulators „avanciert“, wie bei der Familie des Beamten, der noch immer seinem ungebärdigen Sohn mit der schwersten aller Strafen, mit der Lehre bei einem Handwerker, droht.

Die Ansicht, daß Handarbeit Strafarbeit sei, ist aber nicht von heute. Dieser Geist und diese verkrüppelte Geistigkeit sind das Produkt eines durch Generationen anerzogenen falschen Gesellschaftsbegriffes. Dennoch sind nicht allzu viele Jahrzehnte ins Land und in die Zeit gegangen, da es bei den sogenannten „Corps“ an den Hochschulen als Etikettevorschrift galt, daß es zu vermeiden sei, mit einem Arbeiter auf der Straße zu sprechen, auch wenn der Mann in der blauen Blus der eigene Vater war. Wir dürfen uns nicht wundern, daß sich dieser „Klassenkampf von oben“, durch den großen Raster der Weltgeschichte gerüttelt, heute als „Kulturschutt“ in weiten Schichten unserer Bevölkerung abgelagert und in ihrem Denken und Streben festgesetzt hat.

An den Akademikern, wird es heute liegen, das schon längst fadenscheinige Gewebe eines falschen Bildungsdünkels, der heute noch allzu vielen ein Blickfang ist, zu zerreißen. Das Zurechtbiegen verbogener Gesellschaftsbegriffe, die üurch Taten bestätigte Verkündigung eines neuen Ethos der Handarbeit tut not, wpnn unserer Akademikerschaft geholfen werden soll. Alles andere, Stipendien und Unterstützungsfonds, Mensen und Freiplätze, Stellen- und Quartiervermittlung, ist „Erste Hilfe“, bleibt nur ein Notverband. . Das ausgerenkte Glied des Organismus unseres Volkes — die Akademikerschaft — muß wieder in seine sinnentsprechende Lage gebracht werden. Durch das Werkstudenten- tum unserer Tage wächst vielleicht schon langsam ein neuer, ein Zukunftstypus des Akademikers heran: der in Hörsälen und Instituten Gebildete, der sich nicht scheut, sich auch zur Maschine zu stellen, den Pflug zu führen und die Schaufel anzupacken. Der im praktischen Leben Hand anlegende Mensch mit geistigen Interessen und höherem Ziel wäre nicht vereinsamt in der Weltgeschichte. Es ist heute leider vergessen, daß ein Spinoza von Beruf Brillenschleifer war, ein Jakob Böhme den Schusterhammer schwang und eine gewaltige Persönlichkeit wie der heilige Paulus selbst zur Zeit seiner Lehrtätigkeit noch sein Gewerbe als Zeltmadier ausgeübt hat.

Das Ziel steht fest. Der Ausweg hat sich uns durch die Zeit und ihre soziale Not selbst geöffnet. Der Intellektuelle, der nidit nur in Büchern zu Hause ist, sondern audi mit dem Schraubenschlüssel oder dem Hobel umzugehen versteht, ist vielleicht der Typ, dem die Zukunft und auch wieder die entglittene Führung der breiten Schichten unseres Volkes gehören wird. Der Seminarmensch aber, der in die Asyle der Wissenschaft flüchtende Weltdeserteur, wird durch eine unbarmherzige Zeit an die Wand gedrückt und kommt früher oder später unter das große Rad des Existenzkampfes, gleichgültig welches Wirtschaftssystem auch herrschen mag. Eine bittere, aber wahre Erkenntnis.

Auf welchen schmalen Pfaden kann nun das einmal avisierte Ziel erreicht werden, durch welche Mittel der Erziehung und der Selbsthilfe formen wir den zeit- und arbeitsaufgeschlossenen Akademiker?

Eindringlich sprach es Professor Pietsch aus. Aufgabe der Mittelschule müßte es sein, ihre Schüler nicht nur mit Livius und der Differenzialrechnung, sondern auch mit der manuellen Arbeit bekanntzumachen. Der neue Typ einer Mittelschule mit Klassen zimmer und Lehrwerkstätte ist zwar mit seltener Ausnahme ferne Zukunftsmusik, aber durch viele Etappen erreicht man auch ein Ziel. Allein, wir können nicht so lange warten, bis irgendeine Zukunftsschule brennende Forderungen der Gegenwart erfüllt. Das Schicksal der 15.000 Studenten, die, wenn wir den Statistikern Glauben schenken dürfen, keine akademischen Zukunftshoffnungen hegen können, mahnt alle, die Augen haben, die Folgen vorauszusehen. Sofortmaßnahmen zur Verbindung von Wissen und Arbeit sind das Gebot der Stunde. Professor Pietsch glaubt, daß die Jugend selbst diesem Gebot Folge leisten kann, wenn sich initiative Kräfte finden, etwa zu einer, nennen wir es „Aufbäujugend“ sich vereinigen und mit kirchlicher, staatlicher und privater Unterstützung Gemeinsdiaftssiedlungen errichten. In diesem selbst gesteckten Rahmen würde der Techniker die Möglichkeit haben, praktisch und theoretisch an der Gewinnung neuer Baustoffe zu arbeiten, der Ingenieur der Bodenkultur sich mit der Zucht yon Rassetieren zu befassen, und wer vormittag in Gärtnereien und Baumschulen arbeitet, wird den Nachmittag und den Abend der Vervollkommnung seiner geistigen Ausbildung widmen können.

Das ist ein Weg — es wird noch andere geben. Voranstehen muß der Gedanke: Zurück zum Volke, in seine Mitte hinein, nidit nur in Fest- und Kommersreden, sondern mit der eigenen Persönlichkeit. Abtun die letzten Vorurteile, die geistige und manuelle Arbeit, und sei es auch oft nur im Unterbewußtsein, trennen!

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