Eine Stadt, die nicht zur Ruhe kommt

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Berlin ist zum Synonym von Bewegung und Veränderung geworden. Ein Besuch in der größten Baustelle Europas.

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Berlin ist zum Synonym von Bewegung und Veränderung geworden. Ein Besuch in der größten Baustelle Europas.

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An keinem anderen Ort hatte das Verschwinden des Eisernen Vorhanges, der Ost- von Westeuropa trennte, so krasse Auswirkungen wie in Berlin. Mit dem Fall der berühmt-berüchtigten Berliner Mauer vor nunmehr zehn Jahren wurden zwei völlig verschiedene Städte - die Hauptstadt einer kommunistischen Volksrepublik und eine schillernde West-Metropole - plötzlich wieder eins. Seither ist die 3,4-Millionen-Metropole Berlin nicht mehr zur Ruhe gekommen, sie ist ein Organismus, der in rasendem Tempo mutiert. Wie verrenkte Gliedmaßen ragen dutzende riesiger Baukräne in die Höhe. Ein Adergeflecht blauer, orange- und rosafarbener Rohre durchzieht die gesamte Stadt; ohne das aufwendige Hin- und Herpumpen des bis zwei Meter unter den Boden reichenden Grundwassers würden die zahllosen Baugruben zu künstlichen Seen werden. Berlin ist die größte Baustelle Europas. 200 Milliarden Mark (100 Milliarden Euro) werden dort bis zum Jahr 2003 verbaut worden sein.

Überall Baustellen Die rege Bautätigkeit - in Berlin gibt es im wahrsten Sinne des Wortes an jeder Ecke Baustellen - ist das äußere Zeichen der rasanten Veränderung. Die Wirtschaft befindet sich in einem gewaltigen Strukturwandel, die Stadt ist von einem neuen Geist erfüllt, einer Art Goldgräberstimmung. "Du kannst machen, was du willst in dieser Stadt", umschreibt Marco Hardt von der Wirtschaftsförderung Berlin GmbH die Euphorie und den Optimismus, die in den letzten Jahren 100.000 Menschen aus der gesamten Bundesrepublik nach Berlin geführt haben. Ab Herbst tagt auch der deutsche Bundestag in der Stadt, die seit 1991 wieder Hauptsstadt des wiedervereinten Deutschland ist. Damit ist der Umzug von Regierung, Parlament und 8.000 Beamten vom beschaulichen Bonn in die Großstadt Berlin abgeschlossen.

Sitz des Bundestages ist das Reichstagsgebäude, um das zuletzt ein grotesker Namensstreit entbrannte. "Reichstag" klang manchen zu sehr nach "Deutschem Reich", dabei war das Parlament sowohl Kaiser Wilhelm II. als auch Adolf Hitler ein Dorn im Auge (Hitler hat dort nie eine Rede gehalten). Der monumentale Bau aus dem Jahre 1894 wurde nach seinem jüngsten Umbau durch den britischen Architekten Sir Norman Foster im April dieses Jahres wiedereröffnet. Die strahlende Glaskuppel, die sich direkt über dem Plenarsaal erhebt, ist weithin sichtbar. Von ihrer Spitze aus, zu der Besucher auf einer gewundenen Rampe emporsteigen können, hat man einen guten Überblick über einige der wichtigsten Bauten und Bauvorhaben Berlins.

Neue Viertel Direkt im Norden, dort wo die Spree in einem Bogen fließt, verbindet das "Band des Bundes", bestehend aus Bundeskanzleramt und Abgeordnetenbüros, symbolisch die beiden lange getrennten Hälften der Stadt. Im Nordosten blickt man derzeit in eine gigantische Baugrube. Dort entsteht der Lehrter Bahnhof, der künftige zentrale Bahnhof Berlins, an dem sich die Strecken Paris-Moskau und Kopenhagen-Athen kreuzen. Südlich des Reichstagsgebäudes, hinter dem Brandenburger Tor, liegt das Areal, an dem das Denkmal für die ermordeten Juden Europas entstehen soll. Weiter südlich, am Potsdamer Platz, haben die Konzerne Daimler-Chrysler und Sony ein ganzes Viertel hochgezogen. Der Sony-Komplex, der noch nicht ganz fertig ist, verspricht architektonisch weitaus interessanter zu sein als sein biederer Nachbar.

Ein Pflichttermin für alle Berlin-Besucher ist auch das architektonisch extravagante Jüdische Museum, das an Symbolgehalt kaum zu übertreffen ist: Schon dem Grundriß hat Architekt Daniel Libeskind die Form eines demolierten Davidsterns gegeben. Beeindruckend ist der "Garten des Exils", ein windschiefer, ungemütlicher Ort, der dem Besucher die Mühsal des Herumirrens am eigenen Leib erfahren läßt.

Kaum ein Altbau mußte abgerissen werden, um den zahlreichen Neubauten Platz zu machen, denn im historischen Zentrum der Stadt war rund ein Drittel der Fläche unbebaut. Der DDR hatte das nötige Geld gefehlt, um die Stadt im großen Rahmen wieder aufzubauen. "Aus der Katastrophe wurde eine Chance" lautet eine beliebte Formel der hiesigen Lokalpolitiker.

Das einzige bedeutende Gebäude, dem es möglicherweise an den Kragen geht, ist der Palast der Republik, inmitten des historischen, barocken Kerns der Stadt. Die SED-Machthaber hatten das im Krieg schwer beschädigte Stadtschloß, den Sitz der preußischen Könige, sprengen lassen und an dessen Stelle den Sitz der Volkskammer, des DDR-Parlaments, errichtet. Seit Jahren ist das Gebäude geschlossen - wegen Asbestverseuchung. Und ebenso lange wird diskutiert: Abreißen oder nicht abreißen? Für ehemalige West-Berliner ist der Palast der Republik ein Symbol der SED-Diktatur und der Teilung der Stadt, ehemalige Ost-Berliner haben andere Assoziationen: Der Palast war zu DDR-Zeiten öffentlich zugänglich - es gab sogar eine Kegelbahn - und vermittelte zumindest das Gefühl von Freiheit und Weltoffenheit.

Berliner wird man In der derzeitigen Entwicklung der Stadt spielt der seit der deutschen Wiedervereinigung bestehende Konflikt zwischen Ossis und Wessis kaum eine Rolle. Die Dynamik des neuen Berlin wird zu einem großen Teil von Zug'rasten getragen. Berliner ist man nicht, Berliner wird man, wußte schon Kurt Tucholsky. Die gebürtigen Berliner - im Westen noch stärker als im Osten - sind auch die Verlierer der rasanten Entwicklung. 132.000 neuen Arbeitsplätzen in Dienstleistungsunternehmen steht der Verlust von 224.000 Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe gegenüber. In Ost-Berlin, dem kommunistischen Schaufenster zum Westen, waren wenigstens noch die Filetstücke der maroden DDR-Wirtschaft angesiedelt, die Enklave West-Berlin hingegen, der Stachel im Fleisch des Ostblocks, konnte wirtschaftlich nur dank immenser Subventionen aus Bonn bestehen.

In Plattenbau-Stadtteilen im Osten, etwa Hellersdorf-Marzahn, erreicht die Arbeitslosigkeit neue Rekordhöhen, die SED-Nachfolgepartei PDS erreichte dort bei der Europawahl über 40 Prozent der Stimmen. Auch Kreuzberg im ehemaligen Westen ist zu einem Problemviertel geworden: 30 Prozent Arbeitslosigkeit, jeder dritte Einwohner ist Türke.

Neue Generation "Vor der Wende kam man nach Berlin, um nicht Karriere zu machen", sagt Ares Kalanides von der Imagemarketingfirma "Partner für Berlin", die europaweit gute Stimmung für die deutsche Hauptstadt macht. Besonders in Kreuzberg hatten sich jene gesammelt, die mit alternativen Lebensformen experimentierten. Nach dem Fall der Mauer wurden die kaputten Ost-Berliner Bezirken Mitte, Spandauer Vorstadt und Prenzlauer Berg zum Anziehungspunkt für Künstler und solche, die die Entwicklung der Neuen Medien vorantrieben. Berlin wurde zur Wiege der Techno-Musik. Es war eine neue Generation, für die - anders als bei den Verweigerern von Kreuzberg - die Gesellschaft kein zu bekämpfendes "System" und Erfolg nicht a priori etwas schlechtes darstellte Dann kamen die Yuppies und Geschäftemacher. Symbol dafür ist der Potsdamer Platz: Den Ort, wo vor der völligen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das Herz Berlins schlug, haben nun Weltkonzerne in Beschlag genommen. Auch die Love Parade, einst Plattform der aufkeimenden Techno- und DJ-Kultur, ist zu einem Geschäft verkommen. Letzten Sonntag fanden sich wieder 1,5 Millionen junge Menschen bei dem Umzug ein, um eine riesige Party zu feiern.

Auch die Gegend um die Oranienburger Straße ist nicht mehr der heißeste Geheimtip Berlins. Die dort gelegenen Hackeschen Höfe, eine achthöfige Anlage voller Lokale, schnieker Galerien und trendiger Läden, sind das drittbeliebteste Touristenziel in Berlin geworden. "Ein Ort der Produktion ist das nicht mehr", meint abschätzig der Schriftsteller Micha Brendel, der sich wie viele andere seinesgleichen längst in den neuen Künstlerbezirk Friedrichshain zurückgezogen hat.

Wer den Bezirk nicht verläßt, schottet sich ab. Achtlos trotten die Touristen aus Bottrop und Wanne-Eickel an der unscheinbaren Blechtür vorbei, die in einen Club mit dem unaussprechlichen Namen "Eschedek Schrömp Darömp" (oder so ähnlich - bei lauter House- und Easy-Listening-Musik fällt die Verständigung nicht mehr so leicht). Mit viel Liebe haben die Betreiber dafür gesorgt, daß hier alles schön heruntergekommen aussieht. Gummiattrappen von Außerirdischen, die jede halbe Stunde in ihren staubigen Vitrinen zu zucken beginnen, sorgen für die notwendige Schrägheit.

Keine Sperrstunde So wie das Nachtleben erst am Morgen endet - in Berlin gibt es keine amtliche Sperrstunde - so wird die Stadt selbst wohl auch noch lange in Bewegung bleiben. Ganze Viertel werden durch Zuzug und gesellschaftliche Entwicklungen ihr Gesicht verändern. Noch ist Bauplatz reichlich vorhanden, am Alexanderplatz etwa soll in den nächsten Jahren ein Wald von Wolkenkratzern entstehen. "Das beste ist, wenn sich gar nichts ändert", heißt es oft in Österreich, in Berlin hingegen gehört Veränderung zum Leitmotiv selbst von Politikern. Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister: "Berlin ist zum Inbegriff des Umbaus geworden und wird in diesem Sinne immer Baustelle bleiben."

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