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Eine Welt ist zu gewinnen

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Die Weltöffentlichkeit und die Weltpresse sind fasziniert durch Berichte über eine dramatische Rede Chruschtschows am letzten Parteitag der KPdSU, die nunmehr, zu den Iden des März, im Westen bekannt wird. An die Ermordung Casars erinnert tatsächlich diese Schilderung: der große Unbekannte und Bekannte, der Mann, vor dem alle Angst hatten, fiel da unter den Streichen einer verschworenen Gruppe von Menschen, die alle seine Mitarbeiter gewesen waren. Drei Jahre nach seinem Tode fällt Stalin. Die Büsten und Denkmäler, tausendfach ihm geweiht, stürzen vom Sockel, die Staatsämter und Büros, die Galerien und Festhallen des Volkes, die Kulturparks und Militärakademien werden von seiner Ikone gesäubert. Ein Bildersturz, vergleichbar nur jenen Bilderstürzen im spätantiken Rom, wenn da das heilige, von allen Untertanen zu verehrende Bild eines Kaisers von seinem Nachfolger gestürzt wurde: ein neuer Staatsgott trat an die Stelle des alten, der in seiner Ohnmacht vor allem Volke entlarvt wurde. Ein Bildersturz, der an die Bilderstürze im alten Byzanz, im Mutterreich Moskaus, erinnert: die Heiligenbilder wurden da, mehr als einmal, von entflammten Mönchen und einer wütenden Menge aus den Kirchen gerissen. An diese dramatischen Szenerien wurde man bereits durch eine vor Wochen bekanntgewordene kleine Szene bald nach der Eröffnung des 20. Moskauer Parteitags gemahnt: als da, in rhythmischem Klatschen, uralten Liturgien der Akklamation folgend, die Mitglieder des Parteitages mit brausenden Heilsrufen Chruschtschow begrüßten, sprang der stämmige kleine Mann schnell auf die Rednertribüne und schrie die Massen der Heilsheischenden an: Ihr sollt nicht uns, nicht mich so anfeiern, euch selbst sollt ihr ehren und feiern, denn in eure Hand ist die Herrschaft gelegt. — Eine Szene, nicht unwürdig eines Danton.

Wir wissen nicht, inwieweit die dramatischen, dramatisierten Berichte von der Geheimtagung des Parteitages der Wirklichkeit entsprechen.. Wir wissen aber bereits heute, daß die Wirklichkeit der durch den Moskauer 20. Parteitag der KPdSU eingeleiteten Entwicklungen und Möglichkeiten stürmischer, dynamischer und dramatischer als alle Dramen und Dramaturgien, ersonnen von Literaten und Frontberichterstattern, sind.

Das aber ist die Wirklichkeit: Jene Gruppe von Männern, die ihre Härte, ihre Klugheit, ihr Vermögen, durchzuhalten, während der Schrek-kensjahre unter Stalin unter Beweis gestellt und dergestalt ihren Befähigungsnachweis, Politik zu treiben und Menschen zu führen, in der wohl härtesten Prüfung und Zerreißprobe, die die Weltgeschichte kennt — dreißig Jahre unter Stalin - erbracht haben, geht heute daran, das eingeeiste Potential des Weltkommunismus und der innerrussischen Kräfte zu erschließen.

Es ist heute noch zu früh, die innere Tragödie Stalins zu ermessen. Dieser Zermalmer, der sich anschickte, Völker in neue Strukturen umzu-schweißen. indem er sie aus jahrtausendealten Lebensformen herausriß - sein Hauptwerk ist die Zerschlagung der russischen Bauernschaft —, lebte und wirkte in einer Weise, wie sie Hesiod und die Epen der Vorzeit schildern: in den „Tagen und Werken“ des Hesiod treten „Götter“ auf, die sich zeugen und verschlingen, Söhne des Chaos und Bändiger des Chaos, und in den Sagas der Nordländer begegnen uns Berserkernaturen, die Katastrophen bändigen und neue Katastrophen durch ihren unbändigen Willen schaffen, alles, alle Welt, nach ihrem eigenen Stierschädel meistern zu wollen. Stalin bezwang ein Chaos: das Chaos der unruhig flutenden entfesselten Ströme, die seit 1917 in offenem Aufbruch waren; Urkräfte der Völker zwischen der Ukraine und Innerasien. Stalin schuf ein neues Chaos durch seinen Versuch, über Nacht das Leben, Denken, Atmen von Menschen, die Jahrtausende anders gelebt hatten, in die Formen einer militarisierten industriellen Großgesellschaft umzugießen. Der furchtbare Georgier, ein wahrer Sohn jenes Prometheus, der ja in seiner Heimat immer noch an den Felsen des Kaukasus geschmiedet ist, scheute vor keinem Opfer zurück, um sein Ziel, das Chaos hinter seinem Rücken, zu meistern. Da er aber, vielleicht mit Entsetzen, merkte, wie sich ein neues „Chaos“ vor ihm erhob — diese Tausende „neuer“ Menschen, Führer der Armee, Techniker, Ingenieure, Aerzte, Intelligenzler stellten ihm rein durch ihre Existenz völlig neue, ungelöste Probleme —, da versuchte er, der Vater der Revolution (so wollte er gesehen und geehrt werden), die Söhne der Revolution zu verschlingen. Der selbst in titanischen Versuchungen schwebende europäische Barock hatte sich diesen Sachverhalt im mythischen Urbild als häufiges Motiv seiner Bilder gewählt: Chronos, der Urvater, verschlingt seine Söhne.

Und nun ist die Erhebung der Söhne in vollem Gange. Diese wollen dadurch den Anschluß an ihre eigene Jugend, deren Hoffnungen und Verheißungen, und an die „Jugend der Welt“ gewinnen: die erwachenden Völker in Asien, Afrika, Südamerika, im Nahen und Fernen Osten. Kluge Beobachter bei den Warschauer Weltjugendfestspielen im vergangenen Hochsommer wollen da bemerkt haben: unter den hunderttausenden Jugendlichen der östlichen Hemisphäre, die da einander trafen, hatten offensichtlich die Asiaten, unter ihnen wieder die tausend Chinesen, das Uebergewicht: sie wirkten dynamischer, lebendiger, natürlicher als alle anderen. Kein Wunder, daß die Jugend der Satellitenstaaten verkümmert, mager, kommandiert wirkte. Aber auch die sowjetischen Gruppen wirkten etwas provinziell, farblos, unsicher. Stalin, der große Revolutionär, war zum großen Reaktionär geworden. Da er fürchtete, daß sich die von ihm miterweckten Ströme in andere Richtungen bewegen würden, versuchte er sie zu erdrosseln. Eine drakonische Zensur und immer neue Verhaftungs- und Verfolgungswellen erstickten das geistige, das politische Leben in der Sowjetunion, drosselten die riesenhaften, hier aufschwellenden Energien. Diese sollen nun losgeeist, entbunden und in den Dienst der großen Sache gestellt werden: der „Weltrevolution“.

Hier hat nun der Moskauer Parteitag zwei hochwichtige Entscheidungen getroffen: er hat Dogmen geändert, um es allen anderen Völkern zu ermöglichen, an dieser Entwicklung,diesem Fortschritt der Menschheit teilzunehmen, und um es der eigenen Staatsführung zu ermöglichen, mit allen anderen Regierungen und politischen Systemen zusammenzuarbeiten, ohne des Hochverrats im Innern beschuldigt werden zu können. Die erste Dogmenänderung betrifft den Verzicht auf die Lehre von den „zwei Lagern“, die zuvor das theoretische Fundament der sowjetischen Weltpolitik darstellte. Adassiv politisch aufgefaßt, führt diese Lehre zu tausend Kriegen und Bürgerkriegen. Auf der einen Seite steht hier, in der älteren sowjetischen Doktrin, der „sozialistische Sektor“ unter Führung der Sowjetunion: auf ihrer Seite sind Friede, Freiheit, Fortschritt. Durch einen Abgrund getrennt, befindet sich auf der anderen Seite des Grabens der „kapitalistische Sektor“ unter Führung der USA; ihm sind Krieg und Kriegstreiberei, Unterdrückung, sozialer Rückschritt untrennbar verbunden. Zwischen diesen beiden Reichen kann es keinen Frieden geben, nur Waffenstillstände. Bis zur Entscheidung, zum Sieg des „Reiches des Guten“ über das „Reich des Bösen“.

Gegen diese schizophrene Auffassung hatte bereits der jugoslawische kommunistische Theoretiker Milovan Djilas 1949 heftig polemisiert. Die Schlußresolution des 20. Moskauer Parteitages arbeitet, im Anschluß an die Formulierungen Chruschtschows in seiner großen Rede am Parteitag, heraus: diese Zwei-Lager-Lehre entspricht nicht der Wirklichkeit. Es gibt vielmehr drei Weltgruppen: die „sozialistische“ Gruppe, die neutralistische Gruppe und die kapitalistische Gruppe. Im Schoß der letzteren leben und wirken aber auch breite Kräfte für den Frieden, den Fortschritt: unter anderem die Arbeiterbewegung und die Friedensbewegung. An diese Formulierung knüpft die zweite Dogmenänderung an. Stalinisches Dogma war es gewesen, daß alles Heil von Moskau ausgehe;' alle anderen Menschen, Völker, Staaten hätten sich den heiligen Monolith Moskau zum Vorbild zu nehmen, und, ihm sich, angleichend, ihr Leben, ihre Regierung, ihre Politik und Partei zu gestalten. Jeder Kommunist, jeder „Sozialist“, muß zuerst ein guter Sowjetmensch werden. In diesem Sinne hatte der Stalinismus Jn einer harten, unerhörte Opfer fordernden Art die Kommunisten Deutschlands. Spaniens, Frankreichs, der USA usw. verpflichtet. direkte^Handlanger der jeweiligen sowjetischen Tagespolitik zu werden. Das neue Dogma lautet: der Uebergang der einen Menschheit zum Sozialismus ist weder an Gewalt und blutige Revolution gebunden, er kann durchaus, in friedlichen, demokratischen Formen verlaufen — und: es gibt „verschiedene Wege zum Sozialismus“. Man muß nicht zuerst Moskowiter werden, will man der Menschheitsfront des „Fortschritts“, des Friedens, der Freiheit angehören.

Diese Dogmenänderung ermöglicht den Aufbau einer breiten Weltfront, in der Zusammenarbeit mit Volksdemokratien und Staaten auf dem Wege zur Volksdemokratie. Diese Dogmenänderung ermöglicht aber auch Bündnisse- und Allianzen mit praktisch allen anderen Staaten, politischen Systemen und Regierungen, da nunmehr festgestellt wird, daß es „in allen Ländern und Völkern positive Kräfte“ gibt. Nach außen hin ergibt sich hiermit für die gegenwärtige Führung der Sowjetunion die Möglichkeit, die Initiative in dem Kampf der farbigen und „unentwickelten“, Völker um ihre Befreiung vom Einfluß (nicht nur: von der Herrschaft) der westlichen Völker zu ergreifen.

Der Westen wird nur durch eine umfassende Revision seiner bisherigen weltpolitischen Konzepte dieser Offensive begegnen können. Das ist eine Binsenwahrheit, die heute bereits überall sich herumspricht. Da mitist es aber noch nicht getan. Der Herausforderung Moskaus zu einem friedlichen Wettbewerb um die Gestaltung der Erde kann durch eine rein politische Konzeptänderung nicht entsprochen werden. Hier bedarf es einer grundlegenden Ueberprüfung der geistigen und religiösen Methoden, mit denen heute im Westen gearbeitet wird.

Für die heilige römisch-katholische Kirche ersteht hier eine echte Herausforderung wie nie zuvor. — Wann werden die Katholiken über ihren Schatten springen und katholisch, allumfassend, die ganze Menschheit verantwortend werden? De facto, in der Wirklichkeit, und also dem entgegnen können, was programmatisch jetzt in Moskau vor den Augen der ganzen Welt entwickelt wurde? Rußland schickt sich an, über den Schatten Stalins zu springen. Wann werden wir beginnen, über unseren eigenen Schatten zu springen?

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