6652383-1959_09_07.jpg
Digital In Arbeit

Einsame Menschen

Werbung
Werbung
Werbung

Wo immer Menschen sich über ihre Lebenssituation aussprechen können, klagen sie über ihre Vereinsamung. Die Menschen leben eng über- und nebeneinander geschachtelt in Hochhäusern, die Schnelligkeit der Verkehrsmittel und die Fernübertragungen überwinden Raum und Zeit, die Völker sind einander nähergerückt — und die Menschen finden dennoch nicht zueinander. Die gewaltigen technischen Errungenschaften haben vielmehr eine Lebenssituation geschaffen, der der Mensch der Gegenwart seelisch noch nicht gewachsen ist. Er wird von ihnen überwältigt, statt sie zu beherrschen. Er unterliegt der Zauberhülle des Films, dem Bildschirm des Fernsehens, dem Wortschwall des Rundfunks und verlernt es, selbsttätig mit den Nebenmenschen Kontakt zu suchen. Das führt auf die Dauer zu einem Kontaktverlust, der sich in der ganzen Lebenshaltung, in Ehe, Erziehung, Geselligkeit, vor allem aber in der Situation der älteren Generation verheerend auswirkt.

Die überrasche Entwicklung der Technik hat uns kaum noch zum Bewußtsein kommen lassen, daß nur die stärkste seelische Aktivität uns davor bewahrt, durch die Maschine aus dem homo sapiens zum Automaten herabgedrückt zu werden. Der Wandel der gesamten Lebensverhältnisse verlangt heute eine Lebensschulung der Kinder und der Erwachsenen, die das gesamte Leben einbeziehen muß. Zunächst müssen wir den Ablauf der Entwicklung im voraus erkennen lernen. Jede folgende Phase muß im vorhinein durchdacht werden, das Ueberraschungsmoinent muß ausgeschaltet werden. Schon vor Eintritt in die Lebensmitte muß. die Lebensgestaltung der späteren Jahrzehnte bedacht’ werden. Wie die Ehe ist auch die zweite Lebenshälfte das Ergebnis der ganzen früheren Lebenshaltung. Wer selbst in jungen Jahren sein Haus offen hielt, wird später nicht einsam sein.

Die Verlassenheit, die viele Menschen schwer bedrückt und die ein wirkliches Leid darstellt, entspringt aber .nicht bloß dem Alleinsein und dem Einsamsein, die an sich für manche Men ge .’ätmeia sic tim iisr-msesnamn sehen auch ein hohes Glück bedeuten können, weil es ihnen erst das geistige Schaffen ermöglicht. Die schöpferische Einsamkeit, in der innere Stimmen zu dem Menschen sprechen, gehört zu den Höhepunkten menschlichen Lebens. Geistiges Schaffen und religiöses Leben sind ohne Einsamkeit kaum möglich. Was die erzwungene Einsamkeit so schwer macht, ist der Mangel innerer Vorbereitung darauf. Einsamkeit ohne innere Stimmen, ohne Lebensziel und die kostbaren Erinnerungen eines reichen Lebens wird zur Verlassenheit. Das liegt nicht in den Lebensverhältnissen, sondern in der inneren Einstellung zu ihnen. Wer das Leben als Auftrag betrachtet, der bezieht auch Einsamkeit und selbst Verlassenheit in diesen Auftrag ein. Nur aus dem Herzen der Dinge heraus kann das richtige Verhältnis gefunden werden. Wir haben erschütternde Beispiele dafür.

Eine der schwerst geprüften Frauen war Frau Rat Goethe, die Mutter des Dichterfürsten. Als junges heiteres Geschöpf heiratete sie den viel älteren Gatten, dem seine Wohlhabenheit gestattete, ohne Ber,uf nur der Erziehung von Frau und Kindern zu leben. Sie pflegte ihn auch die Jahre seines Schwachsinns hindurch bis ans Ende. Ihre Tochter Cornelia, die dem Vater nachgeraten war, starb frühzeitig. Und ihr Wolfgang wurde nach dem herzoglichen Hof nach Weimar berufen. Sie blieb allein in Frankfurt — und wurde die Freude der ganzen Stadt. Wir haben in unserem Jahrhundert die Wirksamkeit der blinden Helen Keller erlebt, die noch als siebzigjährige Frau in Asien umherreiste und Anstalten für blinde Kinder schuf. Von Kindheit an durch ihr Leiden zur Einsamkeit verurteilt, wurde sie zu einer der großartigsten Gestalten unseres Jahrhunderts. Jane Adams und Selma Lagerlöf waren beide mit einem Leiden behaftet, das ihnen das Tor zu dem verschloß, was im allgemeinen als menschliches Glück betrachtet wird. Auch sie fanden den Weg aus ihrer Einsamkeit in die weite Welt als Pioniere des Lebensmutes.

Freilich dürfen wir die Einsamkeit nicht unterschiätzen. In unserer Zeit der Existentialangst kann auch Einsamkeit zu schwerer Lebenskrise werden.

Wo ein Leben ohne Hingabe an höhere Ziele hingelebt wurde, ist es viel schwerer, einsame Zeiten, hinzunehmen, als nach einem voll erfüllten Leben. Ibsen hat in seinem „Peer G y n t” den modernen Menschen geschildert, der ungehemmt seinem „heimlichen Kaisertum” lebt, vor keinem Verbrechen zurückscheut und doch in allem enttäuscht wird. Er ist nichts als ein mißratener Knopf, den der Knopfgießer noch einmal umgießen will. Denn er war niemals „er selbst”. LIngeheure Einsamkeit ist um ihn. Schon sieht er keine Rettung mehr, da hört er Solveigs Gesang. Sie, die er verlassen hat, hat ihm die Treue gehalten. Er erkennt jetzt: Hier war sein Kaisertum. In ihrem Schoß findet er Ruhe und Šchutz vor dem Knopfgießer. Auch Hemingways Altersbuch „Der alte Mann und das Meer” zeigt schmerzlich eine negative Lebensbilanz. Bitterarm, verlassen lebt der alte Mann in dem Fischerdorf. Täglich zieht er auf Fischfang aus, fängt aber nichts. Endlich gelingt es ihm, einen riesengroßen Fisch zu fangen, aber Haie fressen ihn auf. Es bleibt nur das Gerippe. Er selbst hat seine letzte Kraft vergeudet. Verlassen liegt er auf seinem Totenlager. Nur ein kleiner Junge aus dem Dorf kümmert sich um den alten Mann.

Wie in der Jugendfrage stehen wir auch hier erst am Beginn der Arbeit. Vorbereitung und Schulung, wie §ie in den USA seit langem erfolgreich g’eubtf werdet,Hühren’htfittilr’Wieder zur Eingliederung der Einsamen in die Gemeinschaft. Niemand soll ausgeschlossen sein. Selbst der Schwerkranke, der am Leben draußen keinen Anteil nehmen kann, kann durch seine Einstellung in der Gemeinschaft wirken. Sonntagsrunden in den Pfarren könntep vielen Anschluß bieten. Aus den Betreuten werden dann oft die besten Helfer.

Eine wichtige Aufgabe kommt im Kampf gegen die Vereinsamung der Familie zu. Es war gute alte Sitte bei uns in Wien, alleinstehende Menschen zu den hohen Festtagen oder, wenn sie uns nahestanden, sogar einmal wöchentlich zu einer Mahlzeit einzuladen. Das waren dann die ständigen Hausfreunde, die sich zur Familie zählten, die Kinder zur Firmung führten, in allen Schwierigkeiten mithalfen. Und sie fühlten sich nicht einsam, weil sie mit diesem Anschluß sicher rechnen konnten. In größeren Häusern hielt die Hausfrau ihren jour fix, an dem sie ohne i vorherige Ansage zu treffen war. Solche Wochenempfänge sind sogar in die Geschichte eingegangen. Wenn Karoline Pichler an einem Mittwochnachmittag die geistig bedeutenden Männer Wiens in ihrem blauen Salon empfing, fühlte sich jeder daheim, auch ein ewiger Junggeselle wie Grillparzer. Das Kaffeehaus hat dann . diese Empfangstage verdrängt. In Frankreich wird in katholischen Intelligenzkreisen oft an der „offenen Tür” festgehalten. Vor allem die studierende Jugend wird zu allen Festtagen eingeladen und findet in den Familien ein foyer catholique. Die Wiederbelebung eine bescheidenen Gastlichkeit würde vielen Menschen zur Hilfe gereichen.

Zur Ueberwindung der kritischen Verlassenheit hilft in erster Linie eine ruhige Aussprache. Da die Seelsorge überlastet ist, wurde vor sechseinhalb Jahren in Wien die „Beratung für alternde Menschen” geschaffen, die an jedem Freitag von 16 bis 18 Uhr seither in den Räumen des „Seminars für kirchliche Frauenberufe”, I„ Seitzer- gasse 3, 1. Stock, jedem die Möglichkeit zur Aussprache bietet. Ueber zwölfhundert Menschen haben in den sechs Jahren die „Beratung” aufgesucht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung