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Emi! und der Sclimuclc

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Es waren zwei getrennte Lager, auch wenn sie nur einen Namen hatten, eine Kommandantur, die gleichen Wachen, die gleichen Baracken.

In den Offiziersbaracken waren die Ehepaare mit Kindern eingewiesen, im übrigen, vorderen Teil die Männer Und die Frauen, im großen, rückwärtigen Teil die Kriegsgefangenen. Die österreichischen, die deutschen, alle, die eben nicht nach Rußland abtransportiert worden waren.

Im zweiten Jahr der Gefangenschaft, seit der Schnee meterhoch zwischen den einzelnen Baracken und so auch zwischen den Lagern lag, merkte man nichts mehr von dem Zank, den es drüben beinahe täglich gab, von den Prügeleien. Auch sang die Wache nicht mehr. Hie und da tauchte ein langes Bajonett auf einem der Schneeberge auf. Wer sollte denn noch fliehen? Der Krieg war lange zu Ende. Und tausend Kilometer durch russisch besetztes Land zu flüchten, daran dachte keiner, das zu denken hatte niemand mehr Kraft.

Trotzdem gab es einen Weg hinüber, von einem Lager ins andere. Der rumänische Lagerarzt hatte sein Revier im Gefangenenlager aufgemacht. Weil er dort keinen Ärger mit der Kommandantur hätte, sagten die einen. Weil er dort besser seine Geschäfte abwickeln könnte, wußten wieder andere, die noch dazu munkelten, irgendwo ganz rückwärts gäbe es deutsche Arzneivorräte, die so verschoben werden sollten. Sicher wußte man nichts.

Es dürfte gute acht Tage vor Weihnachten gewesen sein, als sie zum erstenmal den Doppelposten passierte. In dem alten angesengten Pelz, der Sitzgelegenheit, Decke, Nachthemd und Mantel in einem war in jenem Winter, in den zu großen Schuhen, mit dem roten Kopftuch. Man ging zum .Revier vielleicht zehn Minuten, immer entlang des Abflußgrabens vor den Baracken. Nur der war ausgeschaufelt worden, für den Major natürlich.

Schlimm war, daß der Major im Revier durch den Feldwebel sagen ließ, sie müßte warten, er hätte zu schreiben. So wartete sie, ging in dem kleinen Vorraum auf amd ab, schlug die Arme zusammen wegen des Frierens, bis sie die offene Spindtür sah. Halb aus Neugier, halb aus Langeweile öffnete sie sie ganz und sah, ordentlich aufgereiht, den Stempel des Kriegsministeriums auf allem, Verbandpäckchen in Hülle und Fülle und Stapel von kleinen Schachteln mit dem Bayer-Zeichen, der Aufschrift Schering und andere Firmen mehr. Nicht so viel, um Handel treiben zu können, das war klar, es dürfte eher der Vorrat für die Wachmannschaften gewesen sein.

Als sie unter dem Mantel so viel verstaut hatte, als nur Platz war, auch die Taschen voll, und die vorderen Verbandpäckchen wieder in Reih und Glied standen, ging sie langsam den Weg zurück. Der Erstbeste, der ihr entgegenkam, wußte den Weg in die Krankenbaracke, wo im Vorraum ein deutscher Sanitäter saß. Dort lud sie ab, begleitet von den saftigen Flüchen des Sanis über den Major, von dem man nichts haben könnte ohne Geld. Gemeinsam traten sie dann in die Baracke, um die größeren Pakete in den Betten der Schwerverwundeten zu verstecken.

, Sie sah sie zum erstenmal. Was ihr zuerst auffiel, waren aber nicht die Gesichter, sondern etwas Lächerliches: das Fehlen der Leintücher. In dem Halbdunkel gab es nur die hellen Flecken der Köpfe, sonst war alles grau: die Decken, die Uniformjacken, der Boden, die Wände. Dann erst kam das andere: die kurzen Leiber, die sich kaum unter den dünnen Decken abzeichneten, die Rümpfe ohne Beine, ohne Arme. Hier lagen nur die hoffnungslosen Fälle.

Den Gestank merkte sie erst nach Minuten. „Nichts heilt bei dem Fraß“, bemerkte der Sani. „Die Ratten kommen fast jede Nacht in die Betten.“

Bis auf einen schwiegen sie alle. Aber auch der drehte nur den Kopf ein wenig und murmelte: „Hallo, Fräulein!" sonst nichts.

Doch dieses „Hallo, Fräulein" genügte, um den einzigen, der nicht im Bett lag, sondern in einer Ecke saß, aufmerksam zu machen. „Wirklich ein Mädchen", fragte er unverkennbar sächsisch. „Komm näher, laß dich anschaunl“

Sie ging die paar Schritte hin, und dort am Fenster konnte sie gleich sehen, daß er blind war. Blind und noch etwas anderes. Es fehlte ihm ein Teil der Stirn, das alles, wo früher die Augen waren, war eine zerklüftete, violettblaue Maske.

„Ja“, sagte sie automatisch, „ich bin von drüben.., wollte zum Major, aber der schreibt etwas. Ich habe dann Sachen herübergebracht. Die haben genug. Es wird niemand merken.“

Als er nichts verstand, beugte sie sich zum Tisch nieder.

„Scherenschnitte?“ fragte sie.

„Ja." Er hielt ihr sein Gesicht hin. „Schön, nicht wahr? Ich habe schon als Kind sowas können. Sie finden es hier als gute Arbeit. Geld müßte man halt damit machen können!“ Es war eine alte Zeitung, in die er Muster geschnitten hatte.

„Christbaumschmuck könnten Sie machen", fiel ihr da ein. „Können Sie? Ketten, die man ineinander hängt. Sterne, alles mögliche. Als Kinder...“

Er unterbrach sie eifrig. „Kann ich, kann ich", nickte er. „Brauchen Sie vielleicht drüben etwas? Werden Sie drüben Weihnachten machen mit einem Baum?“ „Mit vielen Bäumen“, sagte sie, ohne daran zu denken, daß die hier nichts davon haben würden. „Wir bekommen einen großen Baum von der Kommandantur. Und alle Familien mit Kindern be kommen kleine Bäume in die Zimmer. Wenn noch etwas da ist vom Roten Kreuz, bekommt auch jede Baracke einen Baum."

Und dann: „Sie müssen Goldpapier bekommen, dann können Sie Ketten und Sterne machen für alle Bäume. Vielleicht wird es nicht viel Geld geben, weil niemand mehr bei uns welches hat, aber von den Paketen etwas und vielleicht Wollsachen, irgend etwas."

Er hob wieder sein Gesicht zu ihr hinauf. Aus den Nasenlöchern und aus den Mundwinkeln rannen dünne Fäden von Schleim und Speichel.

„Emil freut sich“, sagte der Sani und schlug ihm sanft auf die Schulter.

„Also gut", meinte sie dann, nach einer Weile. „Sie bekommen das Goldpapier. Das werden wir schon machen."

Sie ging gleich nach dem Appell in die Kommandantur. Ob von ihnen jemand in die Stadt ginge? Sie brauchte etwas. „Nein, keiner", anwortete der Sergeant gähnend. „Zu kalt. Strenger Befehl.“ „Domnul Sergeant", sagte sie und merkte dabei, daß ihr irgendwie verzweifelt zumute war. „Ich brauche Papier. Viel Papier. Glänzendes Papier. Schönes Papier. Wenigstens glattes Papier.“

Er bohrte mit einer Schreibfeder in seinen Zähnen.

Dann fing sie an zu erklären.

Als sie fertig war, merkte sie, daß sie weinte, nahm das Kopftuch herunter und schneuzte sich ausgiebig.

Der Sergeant hatte einstweilen seine Feder hingelegt. „Duduie", sagte er dann, „das machen wir schon. Wir nehmen die Umschläge von den Listen. Es ist dickes, blaues Papier, es glänzt, das heißt es ist glatt. Der Blinde wird glauben, daß es glänzt. Es darf nur niemand wissen, daß ich es gemacht habe. Der Kommandant ist stolz, daß die Listen schön eingebunden sind. Der Russe hat gesagt, alles sei sehr schön bei ihm.“

Sie packten dann eilig und voll Angst vor dem zurückerwarteten Dicįcen die großen Rechnungsbände aus ihren blauen Schutzumschlägen. Der Sergeant wollte sie später in ihre Baracke bringen.

Den Doppelposten passierte sie am Abend. Es dauerte eine Viertelstunde. Sie nahmen kein Geld. Sie mußte auch ihnen die ganze Geschichte erklären. Dafür brachte der eine sie bis zur Krankenbaracke. Der Sani war aber nicht allein. Sechs Gefangene standen um ihn herum, die sich hier anwärmen wollten. Der Emil stand in der Mitte.

„Endlich, Mädchen“, brüllte er sofort, als sie im Raum stand. „Ich muß wohl Nachtschicht einlegen für den Großauftrag. Her mit dem Goldpapier! Ich dachte schon, die Kleine läßt dich sitzen.“

Sie nahm ihre Rolle, loste das Zeitungspapier ab, während alle erwartungsvoll schwiegen.

Dann sagte sie ganz laut und ohne dabei den Blick von den Soldaten zu lassen: „Es hat nicht geklappt, Emil. Erst heute hat der Posten das Goldpapier aus der Stadt gebracht. Aber es ist viel, stark." Sie hielt die großen blauen Bogen in beiden Händen hochgehoben, daß alle sie sehen.konnten. Aber da geschah es auch schon.

Der Sani war der erste: „Da schau“, sagte er, „Emil, da hast du wirklich Glück gehabt. Das ist das schönste Goldpapier, so schön wie von daheim. Die werden staunen drüben." Und dann fingen auch die anderen an. „Laß angreifen", sagte der eine. „Das ist das richtige, nicht das dünne Zeug, das immer reißt.“

So wanderte es von einem zum andern, bis Emil bat, man möchte ihm nun das Papier doch geben. Es könnte zerrissen werden, und er brauchte doch jedes Eckchen für die Sterne.

Emil schnitt und faltete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag. Am Nachmittag mußte er dann eine Pause machen, weil die Hände nicht mehr mitmachten und das Kreuz nicht.

Am Nachmittag des Weihnachtsabends brachte der Posten mit dem Sani die Ketten und Sterne ins vordere Lager herüber. Beide hatten die Arme ausgestreckt und darauf hatte man die Ketten aufgehängt und um ihre Hälse waren an einer Schnur die Sterne aufgefädelt. In den Familienbaracken standen schon die kleinen Bäume. Die Mütter und Kinder aber standen vor den Türen, und die Kinder waren aufgeregt, weil sie in einer Stunde schon „Stille Nacht" singen sollten, zusammen mit dem Lagerpriester, auf dem höchsten Schneeberg des Lagers, wo der große Baum stand. Die kleinen Mädchen von der Zweierbaracke standen einen Augenblick erstarrt, als sie die behäng-

haben die beiden Biographen auf Grund eiger genauen Untersuchung aller erreichbaren Quellen ein Grunderlebnis Hitlers richtig erkannt: in der Armee, im „Regiment List“, findet der von den Kameraden als Sonderling betrachtete Heimatlose zum erstenmal wieder Ordnung und Geborgenheit. Sein Kriegs- erlebnis ist nicht nur die Bewahrung des Bismarck-Reiches vor dem Ansturm des äußeren Feindes — wobei er den Zusammenbruch der verhaßten Doppelmonarchie ersehnte —, sondern auch das Gefühl des Einordnens in eine Gemeinschaft, deren soziale Schichtung und Spannungen er mit hellwachen Augen studierte. Als die kaiserlichen und königlichen Armeen Mitteleuropas zusammenbrachen und der Gefreite Adolf Hitler in München beim Ersatztruppenteil zum erstenmal mit der Politik in Berührung kommt, sucht bereits das entwurzelte und seines obersten Kriegsherrn bęraubte Offizierskorps „nach volkstümlichen Rednern".

Am 10. Mai 1919 wird der Gefreite Adolf Hitler zur „Kommandiertenkom- pagnie“ des 2. bayrischen Infanterieregiments der sich erst bildenden Reichswehr versetzt. In einem Bildungskurs soll er staatsbürgerliche Ideen lernen — aber hinter den Initiatoren dieser so unorthodoxen Heranziehung der grauen Masse Soldat zur politischen Gestaltung der Zukunft steht der Generalstab, für den der überzeugungskräftige Redner die Verkörperung der Namenlosen ist: denn Namenlose hatten auch die Revolution von 1919 gemacht. Viele Politiker, die später eine mehr oder minder bedeutende Rolle spielten, förderten damals den Unbekannten, darunter auch Ernst Rohm, der bayrische Generalstabshaupt- mahn, dessen Ideen vom revolutionären Soldatentum der Zukunft sich so richtig mit denen Hitlers trafen. Seit diesem Jahr kettete ein unsichtbares Band, das zeitweilig stärker und schwächer ist, den zukünftigen Volkstribun an die konservativen Kräfte des Offizierskorps und des deutschen Bürgertums: die Familie des Verlegers Bruckmann, das Haus des Klavierfabrikanten Bechstein, der weltbekannte Kunstverlag Hanfstaengl, ein Kreis reicher und kultivierter Patrizier, sie machen aus dem unbekannten „Trommler" im abgeschabten Feldgrau einen begehrten Besucher eleganter Salons — lange ehe er im Kaiseihof in Berlin das Hauptquartier eines weltberühmten Parteipolitikers bezog. Dazu kam noch, daß, als Seeckt und Stresemann die konstruktive Politik eines ruhigen Aufbaues, wenn auch mit verschiedenen Mitteln, durchzustehen versuchten, die enttäuschten und deklassierten jüngeren Angehörigen des Offizierskorps Nordwestdeutschlands zu Hitler stießen, dessen Bewegung ursprünglich eine rein bayrische war. Mit meisterhafter Taktik hat er sie alle vor seinen Wagen gespannt, den langjährigen Stabschef der

SA Pfeffer, von Salomon, den Prinzen aus dem Hause Hohenzollern, die Vertreter der Schwerindustrie, um dann den revolutionären Kräften die Bahn freizugeben. Vor dem Durchbruchssieg der Septemberwahl von 1930 war der aus dem rheinischen Katholizismus emigrierte Josef Goebbels längst der ungekrönte Satrap Norddeutschlands, und zum Endkampf um die Macht holte sich Hitler wieder aus dem fernen Bolivien Ernst Rohm, mit dessen Hilfe er die Schattenarmee der SA neben der feldgrauen realen Macht der Reichswehr aufbaute, jener Macht, der er einst seinen Aufstieg verdankte und die ihm Hindenburg am 30. Jänner 1933, ohne es zu wissen, durch Blomberg überantwortete.

Am Kreuzweg seines Lebens, am 30. Juni 1934, hat.Hitler, dessen sozialutopische Ideen anscheinend der Verwirklichung entgegengingen, ein letztes Bündnis mit den Konservativen geschlossen und in seiner eigenen Gefolgschaft alle beseitigt, die den Weg der Revolution mit ihm gingen: Ernst Rohm, den Verkünder eines revolutionären Soldatentums, Gregor Straßer, den Repräsentanten der ungestillten antikapitalistischen Sehnsucht der breiten Massen, die an eine Verwirklichung des Sozialismus glaubten. Der Alleinherrscher über die Kraftquellen einer großen Nation, der in scheinbaren Erfolgen den Traum einer tausendjährigen Reichsherrlichkeit zu erfüllen begann, setzte am 1. September 1939 alles auf eine Karte: sein Schicksal und das Geschick der Nation erlag der Ungeduld und dem Mangel an Demut vor den wirklichen Kräften der Geschichte. Wohl spannte sich sein Kriegsreich noch einmal über die europäischen Gefilde und schien den vermessenen Traum eines größeren Reiches, dem allerdings die säkularen Ideen der alten Reichsherrlichkeit fehlten, zu verwirklichen — bis der jähe Zusammenbruch und der Absturz kam.

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