6677303-1961_28_14.jpg
Digital In Arbeit

Endstation Istanbul

Werbung
Werbung
Werbung

„WEISSE FRAUEN sind noch immer eine begehrte Ware im Vorderen Orient. Und es gibt genug zwielichtige Existenzen, die aus dieser Nachfrage ein Geschäft zu machen verstanden haben. Auch die Filmindustrie stieg ganz groß • ein, und ihr brachten die Reißer über Mädchenhandel volle Kassen. Jedoch die Wirklichkeit sieht anders aus, als sie die Zelluloidstreifen darstellen. Die Mädchen, die von Engagements in erstklassigen Etablissements und großer Karriere träumen, landen schließlich alle in der Gosse.”

Diese Worte sprach eine Frau, die jene Verhältnisse kennt wie kaum eine zweite, Dr. Margarethe David. Sie lebt seit 1948 in der Türkei und hat die Betreuung und den rechtlichen Schutz der in der Türkei und im Vorderen Orient lebenden österreichischen und deutschen Mädchen übernommen. Dr. David ist Professorin am Sankt Georgs College der Vinzen- tinerinnen in Beyoglu in Istanbul. Der die

Mädchehschu’tzes . im schweherisclien Freiburg unterstützen wohl .ihre Tätigkeit, doch die delikaten Aufgaben in der Welt des Islams müssen die Angehörigen des Ordens „Dienerinnen des Willen Gottes” allein und mit eigener Diplomatie lösen. Sie haben das Privileg. Zivil zu tragen und sind direkt Rom unterstellt. Das

Aufgabenbereich dieser Frauen ist groß. Sie betreuen und retten die gegen ihren Willen in den Orient vermittelten Tänzerinnen und Animiermädchen, übernehmen den Schutz alleinreisender Mädchen und Frauen im Rahmen einer kleinen Bahnhofsmission, und die rechtliche Vertretung jener Frauen, die einem Türken als Gattin oder Freundin in das Land gefolgt waren, das ihnen kein Recht und keine Unterstützung angedeihen läßt.

ALLER ANFANG IST SCHWER. Auch bei Frau Dr. David. Als sie in die Türkei kam, kannte sie niemand, und keiner wußte umgekehrt von ihrer Aufgabe. Die ersten Kontakte bekam sie durch ihre Schülerinnen. Langsam kam Dr. David mit den türkischen Frauenrechtlerinnen in Kontakt und ist heute bereits die einzige Ausländerin im Bund für türkisches Frauenrecht und Mitglied der Moralkommission. Sie hat es auch erreicht, • daßpdie; türkischen Behörden ,, .ihre .Tätig,keie unterstützen. Jedoch haben djc diversen Manager allzu gute Beziehungen. So kann es vorkommen, daß ein Mädchen, das bei Frau Doktor David Schutz gefunden hatte, von der Polizei wieder dem Nachtlokalbesitzer

— er konnte einen Vertrag vorweisen

— zugeführt wurde. Die Polizei aber betont, daß es keine Zwangsverträge,

keinen Mädchenhandel und keinen Rauschgiftschmuggel im Land gäbe. Die Türkei sei ja Mitglied der Interpol. Die Praxis jedoch zeigt etwas anderes. Im türkischen Recht ist nämlich verankert, daß ein Mädchen mit sechzehn Jahren bereits frei über sich verfügen kann, also praktisch großjährig ist. Nun sind aber gerade die „engagierten” Mädchen so eingeschüchtert und wissen von diesem Paragraphen, der sie nicht mehr als minderjährig bezeichnet, daß sie bei der Polizei meist ihre freiwillige Verpflichtung an ein Lokal bestätigen.

BLÄTTERN WIR EIN WENIG in den Aufzeichnungen der Interpol. Die neunzehnjährige Maria Natan hatte eben ihre Tanzprüfung an der Staatsoper in Berlin abgelegt und besuchte ihre Mutter in München. Sie lernte einen eleganten Herrn kennen, der sich als Ballettmanager vorstelltc und ihr eine Tournee in-die Schweiz, und nach Frankreich mit 150 ‘ Dollar Abendgage anbot. Maria Natan nahm an, und kurze Zeit darauf reiste die Truppe ab. Die einundzwanzig jungen hübschen Mädchen erfuhren nun, daß eine Dispositionsänderung notwendig war, und man vorher noch auf ein Monat in die Türkei müsse. Die erste Station war ein letztklassiges Nachtlokal in Ankara. Der Brief, den Maria an ihre Mutter schrieb, sprach Bände. „Es ist nicht zum Aushalten. Ich muß fast nackt tanzen und mich nach dem Auftritt zu den Gästen setzen.” Der zweite Verzweiflungsschrei kam von Zypern. „Ich bin dem Zusammenbruch nahe”, schrieb Maria Natan. „Was man hier alles für eine lumpige Gage machen muß, spottet jeder Beschreibung. Ich kann es Dir gar nicht schreiben.” Beirut, Bagdad. Dann kam der letzte Hilfeschrei: „Ich kann nicht mehr. Was hier alles passiert — aber mir ist es schon egal. Mutti, bitte, hol’ mich hier heraus.”

Die alte Mutter in München ist verzweifelt und ohnmächtig. Sie schrieb dem Agenten, lief zu Anwälten. Es war, als pralle sie gegen eine Mauer. Diese Mauer ist der Vertrag, der eingehalten werden muß. Sonst hätte sie tausend Dollar Konventionalstrafe zu zahlen. Woher aber sollte die Rentnerin dieses Vermögen nehmen. Eines Tages rührte sich der Agent und erklärte sich bereit, mit fünfhundert Dollar zufrieden zu sein. Die Mutter aber kann diese Summe nicht auf bringen. Im Moment. Und bis sie das Geld erspart und zusammengebettelt hat, dann wird es für ihre Tochter zu spät sein. Wen der orientalische Sumpf einmal festhält, den läßt er kaum mehr aus.

EIN ÖSTERREICHISCHES MÄDCHEN — wir wollen es Brigitte nen- rien — träumte mit seinen ‘ sechzehn Jahren von einem Badeäufenthalt am Meer. Und die Mutter machte ihrer Tochter zum Geburtstag ein ganz besonders schönes Geschenk.. Eine Pauschalreise an die .Adria, alles inbegriffen. Die Mutter, eine Arbeiterin aus Linz, machte sich keine Sorgen, denn was konnte im Rahmen einer Gesellschaftsreise schon geschehen; Rein gar nichts.

Italien — Sonne und Meer. Brigitte schwebte im siebenten Himmel. Und als sie noch einen hübschen Italiener eines Abends beim Tanz kennenlernte, und er beim Nachhausegehen schon von „ainore” sprach, war sie kaum mehr zu halten. Sie hatte ihre große Liebe gefunden. Er lud sie ein in se:”c Heimatstadt Neapel, und

Glauben an die Menschheit fast verlöten, würde sich Dr. David nicht so bemühen, sie wieder in ihre Heimat zurückzubringen.

EINZELFÄLLE? Keineswegs. Man könnte mit den Schicksalen dieser iungen Mädchen Bücher füllen. Aus

Brigitte verließ die Reisegesellschaft. Zwei Monate darauf wurde das sechzehnjährige Mädchen verwahrlost in einer Matrosenkneipe in Istanbul aufgefunden. Heute ist sie wieder zu Hause. Ein Verdienst Dr. Davids? Sie schweigt dazu. Doch nur sie konnte es fertigbringen, dieses halbe Kind aus den Klauen der Mädchenhändler zu reißen.

EINE JUNGE DEUTSCHE verliebte sich in den Untermieter ihrer Eltern, einen türkischen Studenten, der in München Medizin studierte. Sie wurde seine Freundin, glaubte seinen Liebesschwüren und der versprochenen Ehe. Als sie ein Kind erwartete, schrieb ihr der mittlerweile heimgekehrte Türke, daß sie ein Haus und eine gute Versorgung erwarten. Sie kam nach Antalia, und das Haus entpuppte sich als eine kleine, verfallene Villa am Stadtrand. Von Ehe war keine Rede mehr, und als das Kindergeschrei in der Nacht dem Mann einmal zuviel wurde, warf er den Säugling auf den Boden. Das Kind erlitt tödliche Verletzungen. Die Behörden stellten einen Unfall fest, und der Mann ging straffrei aus. .Der Türke, nicht besonders arbeitsfreudig, hätte sein Studium aufgegeben und wollte das Mädchen auf die Straße schicken. Als es dies ablehnte, verbot er ihm Haus und Heim. Die junge Deutsche wollte sich als Kindermädchen verdingen, mußte aber ajle Stellungen aufgeben, da sie den Anblick von gesunden, lebenden Kindern nicht ertrug. Die Erinnerung an ihr eigenes war zu stark. Sie lebt heute noch in Istanbul, herumgestoßen. von Dr. David öfter vermittelt, aber nirgends behalten. Ihr Geist ist etwas verwirrt, und sie hätte den blühenden Mädchen, die vom Orient eben nur wissen, daß es das Land aus Tausendundeiner Nacht ist, werden menschliche Ruinen, sind sie einmal als „Tänzerin in ein erstklassiges Nachtlokal” vermittelt... Endstation Istanbul.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung