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Engagement in einer Welt auf Brettern

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Martin Walser spricht vom heutigen Theater als einer „Ablenkungsbude erster Klasse“. Wovon lenkt es seiner Meinung nach ab? Von gesellschaftspolitischen Aufgaben. Tatsächlich war das Theater all die Jahre her, bedingt durch das Erleben des unbegreifbaren Schicksals im letzten Krieg, vom Trend nach dem Irrealen beherrscht. So nun fordern die lautest vernehmbaren Stimmen das politische Theater.

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Martin Walser spricht vom heutigen Theater als einer „Ablenkungsbude erster Klasse“. Wovon lenkt es seiner Meinung nach ab? Von gesellschaftspolitischen Aufgaben. Tatsächlich war das Theater all die Jahre her, bedingt durch das Erleben des unbegreifbaren Schicksals im letzten Krieg, vom Trend nach dem Irrealen beherrscht. So nun fordern die lautest vernehmbaren Stimmen das politische Theater.

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Doch dieser Begriff ist vieldeutig, ihn nur in einem bestimmten Sinn zu verwenden, hieße ihn manipulieren. Das politische Stück behandelt die Beziehungen des Menschen zu Menschengruppen, in größtem Ausmaß zum Staat. Das Zueinander des Einzelmenschen zum Einzelmenschen und auch zur Familie gehört, falls hierin nicht vom Staat gesetzte Normen geändert werden sollen, nicht dem politischen, sondern dem privaten Bereich zu. Diese Unterscheidung ist wichtig, da wir heute Tragödien aus privaten Motiven nach den Millionen Toten als Opfer politischer Maßnahmen kaum mehr vertragen. Was ist nun politisches Theater? Manche behaupten — allerdings sehr einseitig —, es sei immer engagiertes Theater, das heißt, es habe die Aufgabe, den Zuschauer zu politischem Handeln, zu einer Umformung der bestehenden Zustände, kurz zu revolu' < lärem Tun zu aktivieren. Man verlangt Agitationstheater, Anstiftungstheater, die Wirkung soll im Zuschauer nicht nach innen gehen, sondern ihn zum Eingreifen nach außen veranlassen. Schon Pis-cator Jiat erklärt, die Kunst sei nur einS!Mifctel zum. Zweck, ein politi?

sches, ein propagandistisches Mittel. Man bezieht heute die gleiche Stellung, ohne sich auf ihn zu berufen. Der englische Dramatiker Edward Bond konstatierte, er schreibe, weil er die Struktur der Gesellschaft ändern möchte.

Das Ziel der erstrebten Umformung bleibt meist reichlich vage. So manche jener allerdings, die Gewalt, Terror nie erlebt haben, wünschen anscheinend Gewaltsysteme herbei. Ob aber das Theater geeignet ist, politisch aktivierend zu wirken, darüber sind die Meinungen geteilt. Diese Möglichkeit negieren die meisten. Es wird entgegengehalten, daß bei Gesinnungsgenossen lediglich eine Bestärkung ohnedies vorhandenen Verhaltens zu erreichen ist und die anderen diese Stücke einfach als „ästhetische Konsumartikel“ auf sich wirken lassen. James Saunders meint, daß kein Kunstwerk je jemanden zu irgendeiner bestimmten Stellungnahme bekehrt hat. Einem Agitationsstück gelingt das danach wohl erst recht nicht. Vollends halten manche das Theater für tot und werfen die Frage auf, ob die Bühne nicht durch die Politik zu ersetzen

sei. Ja, der Komponist Hans Werner Herne erklärt, nicht Museen, Opernhäuser und Uraufführungen seien wichtig, sondern es gehe um die Schaffung des größten Kunstwerks der Menschheit, die Weltrevolution. Die Dynamisierung des Zuschauers, des Kunstbetrachters, die in Amerika, in England auch von den Untergrundleuten erstrebt wird, um das Theater, die Künste aus ihrem Randdasein zentraler ins Leben zu rücken, ist aber keineswegs völlig aussichtslos. Das zeigt die Erfahrung. Napoleon hat bekanntlich erklärt, mit der Komödie „Der tolle Tag“ von Beaumarchais sei die Revolution anmarschiert. Ja, daß die Schrittmacher aller großen Revolutionen Schriftsteller waren, läßt sich einigermaßen nachweisen. Deshalb sind sie aber auch nach Etablierung der neuen Macht meist unbeliebt. Stücke wie „Die Weber“ und „Dör Stellvertreter“ haben, wenn auch nicht unmittelbar zum Handeln angereizt, so doch zu einer Umformung des politischen Bewußtseins beigetragen. Günter Grass behauptete, wenn das Theater politisch werde, könne es nicht Thesen transportieren, sondern nur gesellschaftliche Widersprüche zeigen und dogmatische Fixierungen verunsichern. Aber auch damit wird dem Zuschauer ein bestimmter politischer Impuls gegeben.

In der Tschechoslowakei halfen zweifellos einige Stücke, im besonderen die von Havel, dazu, staatliche Reformen, einen neuen Kurs möglich zu machen, der nun allerdings wieder abgewürgt ist. Wären Bühnenwerke völlig wirkungslos, würden sie die Gewalthaber der Diktaturstaaten nicht verbieten, falls sie eine ihnen nicht genehme Einstellung bekunden. Da werden die Zuschauer überaus hellhörig und aufgeschlossen für geringste Akzente einer auch nur erahnbaren Gegentendenz. Im gegebenen &#9632; Fall wirkt sich dies dann im Handeln aus. Eine andere Situation zeigt sich in den Demokratien. Curt Hohoff hat zwar dargetan, daß da auf dem Buchmarkt das für den Roman aufgeschlossene Zeitalter vorbei sei, daß eine Überschwemmung mit Büchern aus dem Bereich der aktuellen Politik eingetreten ist. Aber gilt diese Bevorzugung des Politischen auch

für das Theaterpublikum? Oscar Fritz Schuh erklärte, mit Stücken des politischen Theaters treibe man das Publikum aus dem Haus, man solle das normale nicht unterschätzen, das engagierte nicht zu hoch beziffern. Dürrenmatt bezeichnete das Basler Publikum als unpolitisch, aber das gilt für den überwiegenden Teil der Zuschauer in jeder anderen Stadt. Goethe war es darum zu tun, das deutsche Publikum auf ewige Zeiten daran zu erinnern, „daß es nicht nur berufen werde, um zu schauen, sondern auch, um zu hören und zu vernehmen“. Aber vernehmen wollen die wenigsten.

Politisches Theater ist keineswegs nur, wie heute fälschlich angenommen wird, engagiertes Theater. Außer dem politisch zum Handeln anreizenden Stück ist es auch möglich, politische Geschehnisse ohne solche Akzente darzustellen, was sich eigentlich von selbst versteht. Und hier liegt in unserer Zeit die Hauptaufgabe der Bühne. Das Theater ist etwas anderes als ein Versammlungslokal für politische Agitatoren, es ist nicht primär dazu da, szenische Beispiele für irgendeine propagierte Gesellschaftsordnung zu bieten oder die von den Macht-habern oder Revolutionären gewünschte Sozialkritik in Bühnengeschehnisse verpackt vorzuführen. Das Anklagetheater hat auch den schweren Nachteil der Schwarzweißzeichnung, die sich aus der propagandistischen Absicht ergibt. Es entstehen Popanze, aber keine lebendigen Gestalten. Wie PeteT Weiss' „Lusitanischer Popanz“ beweist.

Doch ist der politische Vorwurf für das Drama vorrangig in einer Zeit, da sich rings, vom Politischen her, ungeheure Verbrechen begeben und die Bedrohungen immer größer werden. Mögen Teile des Publikums durch das Theater in eine Traumwelt versetzt werden wollen, die sie aus den Verstrickungen des Alltags löst, so ist es doch die vornehmste Aufgabe der Bühne, sich mit den entscheidenden Erscheinungen der eigenen Zeit auseinanderzusetzen. Und das ist heute die Politik. Man denkt über das Theater se' r gering, wenn man es nur als Mittel für irgendeinen Zweck ansieht. Auseinandersetzungen im vorgeführten Spielgeschehen haben keinen nach außen wirkenden politischen Zweck. Es geht darum, auf der Bühne Kämpfe darzustellen, nicht selbst zu kämpfen, es geht um die Sichtbarmachung dessen, was hinter dem Politischen wirkt, es geht um die Erweckung des Gewissens in einer gewissenlosen Zeit. Das aber haben wir nötiger denn je.

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